Monstrum ex Machina und Schlagzeug-Tristan

LUCERNE FESTIVAL / URAUFFÜHRUNGEN

21/09/10 Man hatte den alten Opernrecken Henze bereits abgeschrieben, da gab es bei den Salzburger Festspielen sein äußerst pittoreskes Märchenstück „L’Upupa“, in dem ein Wiedehopf im Zentrum steht. Dann wollte die Berliner Lindenoper unbedingt etwas Neues, Frisches – und Henze lieferte 2007 seine „Phaedra“.

Von Jörn Florian Fuchs

In Luzern gibt es zu Beginn ein paar Geräusche per Zuspielband, dann treten junge Leute von heute auf und sprechen Textfragmente aus dem „Hippolytos“ des Euripides. Plötzlich beginnt ein Teil der Truppe zu tanzen, ein anderer vollzieht archaisch anmutende Gesten. Erst nach einer Viertelstunde beginnt die eigentliche Oper. Die Protagonisten durchleben nun eine Vielzahl von Emotionen und Situationen, Regisseur Stephan Müller hält dabei alles in der Schwebe zwischen klar erkennbarer Gegenwart und der Überzeitlichkeit des Mythos, wodurch reichlich Binnenspannung entsteht.

Die Sänger werden fast alle durch Schauspieler bzw. Tänzer verdoppelt, was gut zur Struktur der Oper und zum Libretto Christian Lehnerts passt, es geht nämlich auch in Musik und Text um Verdoppelungen, Spiegelungen, Verwandlungen. Wird zu Anfang die Vorlage noch recht genau und beinahe handgreiflich erzählt, gerät man im zweiten Teil des Abends in ein Zwischenreich auf gleich mehreren Ebenen. Hippolyt, der zuvor ob seiner Liebe zu Artemis von der eifersüchtigen Aphrodite einem tödlichen Spiel ausgesetzt wurde, meldet sich als eine Art Proto-Homunculus zurück, sehr langsam wird er seines Schicksals gewahr und erkennt die unfreiwillige Liebe der Stiefmutter Phaedra. Auch in diesem Jenseits kämpfen übrigens Phaedra, Artemis und natürlich Aphrodite weiter um ihn.

Erst ganz am Schluss erscheint der Minotaurus als Monstrum ex Machina und bereitet dem ‚Spuk’ ein Ende: ja, das Schicksal der Sterblichen sei bisweilen seltsam und auch böse Kräfte gebe es, aber man lebe am besten einfach halbwegs vergnügt weiter, so lang es eben geht.

Die eigenwillige Dramaturgie dieser, wie Henze sagt, Konzertoper stellt große Herausforderungen an die Regie. Insofern ist Stephan Müllers vorsichtige, teilweise recht installative Herangehensweise vermutlich das einzig Richtige, wirklich großes Musiktheater entsteht so allerdings auch nicht.

Natürlich war auch dieses Jahr wieder die Speerspitze edelster Klangkörper angereist, Dirigentenstars wie Claudio Abbado oder Pierre Boulez gaben sich die Ehre, die junge Lucerne Festival Academy sorgte für Jubel, und so weiter, und so fort. Eines jedoch war anders als in den letzten Jahren, nein, eigentlich gab es gleich zwei Neuerungen.

Die Oper erhielt einen deutlich breiteren Raum, man plant ja gerade einen vielseitig bespielbaren Salle Modulable fürs Musiktheater, aber die Wartezeit ist Intendant Michael Haefliger offenbar zu lang und so programmierte er neben Henzes „Phaedra“ noch drei weitere Werke: einen halbszenischen „Fidelio“ mit neuen Texten von Tatjana Gürbaca, Wagners „Tristan“ in einer Visualisierung von Bill Viola und einer Raumregie von Peter Sellars sowie die Uraufführung des Théâtre Musical „Herz Maere“ von Alfred Zimmerlin. Es ist eine Tristan-Variante, die auf Gottfried von Strassburg und Konrad von Würzburg zurückgeht, doch die Texte dienen nur als Ausgangsmaterial für ein intelligentes und sehr klangsinnliches Kammerspiel.

Das einander überirdisch liebende Paar und der sehr irdisch intervenierende König Marke sind sowohl Sänger wie Instrumentalisten. Wobei Isolde eigentlich mehr ihre Geige sprechen bzw. singen lässt, während Tristan neben seinem Schlagzeugspiel auch vokal ausführlich zu Worte kommt. Besonders gelungen sind einige dem Free Jazz verwandten Improvisationen sowie zahlreiche Kämpfe, die mittels Instrumenten ausgefochten werden.

„Herz Maere“ fand im Rahmen eines regelrechten Uraufführungsmarathons statt, mit insgesamt 24 Auftragswerken und in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Tonkünstlerverein. Das Spektrum reichte von sehr abstrakten Klangerkundungen bis zu beinahe poppigen Environments, von filigranster Kirchenmusik bis zu anarchistischem Orchestergebrüll, etwa bei Michael Wertmüllers Stück „Zeitkugel“. Es sind gewaltig-gewalttätige Exerzitien, für die man neben einem Haupt- gleich vier Nebendirigenten braucht. Ach ja, und dann ist da auch noch ein kaum zu bewältigender Klavier- und Orgelpart.

Da war es nachgerade erholsam, sich den vermeintlich leichten, volksmusikalischen Klängen des Ensembles Alpini Vernähmlassig hinzugeben. Gemeinsam mit ihren Kollegen vom Helix-Ensemble für neue Musik der Hochschule Luzern versuchten die wackeren jungen Künstler eine Gratwanderung zwischen Alt und Neu, zwischen Tradition und Moderne. Letztlich geht es darum, das musikalische Erbe kreativ zu reflektieren und etwa die schönen Alphornklänge nicht nur Touristen oder rechtskonservativen Schweizer Politikern zu überlassen. Mit sanfter Ironie, aber ohne Zerstörungswut geht beispielsweise Fabian Müller zu Werk, seine Neudeutungen sind ironisch, originell instrumentiert und ziehen doch immer wieder den Hut vor den alten Meistern, ohne die es eben letztlich auch nicht geht.

Der nächste Streich: "Luzern Festival am Piano" findet von 22. bis 28. November statt. - www.lucernefestival.ch
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