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Kunst als Wertesystem

REST DER WELT / KASSEL / DOCUMENTA

18/07/12 Die documenta (13) bietet diesmal besonders vielfältige Zugänge und überzeugt mit einem nachhaltigen Konzept. Zusammen mit den klassischen Ausstellungsorten Fridericianum, documenta Halle, Orangerie und Karlsaue sind auch abseits der Hauptschauplätze eine Fülle anregender Entdeckungen zu machen.

Von Wolfgang Richter

Natürlich – es gab auch früher schon die Ausweitung der Schauplätze. Da lag der Fokus jedoch auf mitunter spektakulären Interventionen wie etwa Walter de Marias vertikalem Erdkilometer, der Stadtverwaldungsaktion „7000 Eichen“ von Joseph Beuys, der monumentalen Spitzhacke von Claes Oldenburg, Tadashi Kawamatas Holzskelett um die Ruine der Garnisonskirche, dem „Rahmebau“ von Haus Rucker & Co. Jetzt liegt das Augenmerk auf einer stadtgeschichtlichen Spurensuche: Zum Teil nicht mehr genutzte Gebäude wurden als Ausstellungsorte adaptiert, blieben jedoch in ihrem äußeren Erscheinungsbild unangetastet. Nur ein schlichter gelber Plakatständer verweist auf den Eingang.

Diese Entscheidung macht die documenta zu einem Geh-Erlebnis. Sie gewährt den Arbeiten Autonomie. Das Sich-Fortbewegen von einem Ort zum anderen wird so zu einem reflexiven Akt, bei dem man die gewonnen Eindrücke verarbeiten kann. Im Erleben von Geschichte(n) führt dies zu einer für die documenta neuen Stadterfahrung.

Die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev überzeugt in Kassel mit einem nachhaltigen Konzept, das ganz auf  künstlerische Forschung und Formen der Einbildungskraft setzt und dem „name dropping“ der Kunstszene eine engagierte, ganzheitliche Vision entgegen setzt. Sie begreift Kunst von ihren Funktionen her, im Ansatz etwa der legendären Ausstellung von Werner Hofmann „Kunst – was ist das“ in der Hamburger Kunsthalle verwandt. Eine derartige Kunst-Erfahrung eröffnet einen entspannten Zugang, der zu Seh-Abenteuern einlädt, bei dem der Kunstbegriff erweitert wird, in dem gesellschaftliche, politische, (natur-)wissenschaftliche Fragestellungen ebenso  Raum haben wie ökologische und philosophische.

Und da ist als ganz neuer Aspekt für eine documenta der globale Ansatz, Kunst als eine gesellschaftliche Kraft zu begreifen, die als vernetztes System Beiträge für die (Weiter-) Entwicklung utopischer Strategien zu entwickeln imstande ist. Im Aufbrechen des euroamerikanisch zentrierten Blickwinkels auf den Kunstkommerz leistet Carolyn Christov-Bakargiev mit Kabul /Afghanistan, Alexandria-Kairo/gypten nicht einem postkolonialen Kunstexport Vorschub, sondern stellt eindringlich Fragen nach der Lebensbedeutsamkeit von Kultur. Mit Banff/Kanada eröffnet sie überdies einen Freiraum, um in der Abgeschiedenheit einer Klausur über den Ausbruch aus „vorherrschenden sozioökonomischen Paradigmen“ nachzudenken.

Dieses Raum Schaffen für Nachdenklichkeiten beginnt paradigmatisch im Fridericianum, durch dessen beinahe leeren Räume im Erdgeschoss Ryan Gander eine leichte Brise wehen lässt, spürbar genug, um sich von bloßer Zugluft zu unterscheiden und eine Einladung, mit den Sinnen wahrzunehmen. Der „Brain“,in der Rotunde, gewissermaßen das Destillat der documenta, ist als assoziative Versammlung von Kunstwerken, Objekten und Dokumenten von 2500 v. Chr. bis in die Gegenwart konzipiert und bündelt die Gedankengänge. Die Objekte erschließen Räume des Möglichen, führen zu Orten und Zeiten, die weit weg sind wie die baktrischen Kultfiguren oder ganz nah wie das Video von Ahmed Basiony vom Aufstand auf dem Tahir Platz in Kairo am 25. Januar 2011. Sie zeigen „Bombenteiche“ aus dem durch den Vietnamkrieg zerstörten Kambodscha  und während des Bürgerkrieg durch Bomben geschmolzene Bronzefiguren aus dem Nationalmuseum von Beirut neben Stilleben von Morandi und Masken aus Kartonverpackungen von Judith Hopf, angeregt durch die Gedenkstätte Breitenau bei Kassel, Arbeitshaus und NS Konzentrationslager.

Wie dicht verwoben die Erzählstränge sind, wird im 1. Stock am Beispiel von Alighiero Boetti, Teilnehmer an der documenta 5 (1971), deutlich. Sein Aufenthalt in Kabul, wo er 1971 bis 1977 das One Hotel betrieb, gab den Anstoß für die thematische Verknüpfung mit Kabul. Diesem Thema und den umfangreichen Aktivitäten, die dort im Vorfeld der documenta 13 stattgefunden haben, wird im ehemaligen Elisabeth-Krankenhaus ausgiebig Raum gegeben. Anhand der Transkriptionen, Videodokumentationen und künstlerischen Arbeiten kann man sich ein Bild davon machen, wie es gelungen ist, künstlerische Praktiken mit der lokalen Gemeinschaft in einem emanzipatorischen Prozess zu teilen.

Im KZ neues Leben in Form von Apfelsorten zu schaffen, diese Botschaft des „Konzeptkünstlers“ Korbinian Aigner wir verknüpft mit den narrativen Strukturen von Mark Lombardi, die Netzwerke der Korruption anschaulich machen. Beide Beispiele stehen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Anton Zeilingers Experimentalstationen zur Quantenphysik: Das sind eindringliche Beispiele für den Polylog, welchen die documenta heuer fördert.

Um ökologische Fragen und neue Wertesysteme geht es im naturkundlichen Museum Ottoneum. Formulierungen zur Kartografie und zu Fragen von Zeit, Raum und ihrer Erfahrungen gehen die Künstler in der Orangerie nach, wo sich das astronomisch-physikalische Kabinett befindet.

„Ich musste nicht einer sprachlich orientierten Kultur angehören, sondern einer offenen Ausdrucksform“, so formulierte Etel Adnan, die 1949 Beirut verließ, um zuerst nach Paris und dann nach Kalifornien zu gehen, ihr Bekenntnis zur Abstraktion – im Kontext der Interkulturalität eine Position zum Stellenwert der Malerei heute, der in der Documenta-Halle zur Diskussion steht. Automotoren in Gebete verwandelt und Scheibenwischer im „Bitt für uns“-Rhythmus , damit gelingt es Thomas Bayrle auf ironische Weise, Technik und Sprache zu synchronisieren.

Eye Catcher in der Neuen Galerie ist Geoffrey Farmers medienkritischer Blick auf die gefilterte Geschichte aus dem Blickwinkel der Zeitschrift Life von 1935 bis 1985 anhand von Tausenden von ausgeschnittenen Bildern, die er zu Schattenspielfiguren verarbeitet hat.

Auf dem Gelände des Hauptbahnhofs abseits des Bahnbetriebs ist der  Nordflügel der Archäologie der Zeit gewidmet. Lara Favaretto thematisiert in ihrem „Momentary Monument“ aus technischem Müll Zerstörung und Wiederaufbau. Susan Philipsz führt mit ihrer Klanginstallation an die Rampe der Zeit – just an jenem Ort, von dem aus Deportationen ins KZ Kassel verließen. William Kentridge liefert mit „Refusal of Time“(am 15. Sept. auf 3sat) eine grandiose Elegie gegen das unerbittliche Fortschreiten der Zeit, gegen Alter und Tod. Im Südflügel, wo einige spannende Beiträge zur medialen Tranformation der Wirklichkeit versammelt sind, verstört Rabih Mroué mit seinen Analysen zum libanesischen Bürgerkrieg von 1990. Er arbeitet mit Handyvideos aus dem Internet, deren Benutzer während der Aufnahme erschossen wurden.

Auf die Arbeiten abseits der Hauptschauplätze sollte man auf keinen Fall verzichten: Walid Raads Forschungsprojekt zur Kunstgeschichte der arabischen Welt (Untere Karlsstraße) deckt Rahmenbedingungen für die zeitgenössische Kunst in der Golfregion auf. Im 1952 von Paul Bode (Bruder des documenta-Gründers Arnold Bode) erbauten dreieckigen Kaskadekino mit einer goldenen Prismendecke greift  Jérome Bel einfühlsam das Thema Behinderung auf. Im Ambiente des Grand City Hotels Hessenland mit dem Charme der 50er Jahre splittet Gerard Byrne filmische Typologien auf. Ein Must See sind Theaster Gates aktivierende Eingriffe in das desaströse Hugenottenhaus. Allora & Calzadilla nutzen die Höhlenatmosphäre  des Bunkers im Weinberg für ein evolutionäres musikalisches Experiment.

Bleibt noch zum Schluss das weitläufige Gelände der Karlsaue: Ganz anders als zu früheren documenta Zeiten, wo Arbeiten auf  den Park  reagierten, sind diesmal 24 Fertighäuser als individuelle Typologien, abgestimmt auf die Konzepte der KünstlerInnen, in die Landschaft gestreut. Jedes für sich ein eigener Kosmos und meist ohne Bezug zum Ambiente, oft auch als Kontrast dazu. Ein Markt der Ideen, wie eine Ansammlung vieler Henry Thoreaus mit viel Raum dazwischen, wo man beim Gehen den Rahmenbedingungen der documenta (13) nachhängen kann: „auf der Bühne“, „im Belagerungszustand“, „im Zustand der Hoffnung“ und „auf dem Rückzug“.

Die documenta (13) dauert noch bis 16. September. - d13.documenta.de
Unter zwei Tagen ist der Parcours kaum zu bewältigen. Wer nicht so viel gehen will, dem ist  anzuraten, Konrad, das neue Fahrradvermietsystem in Kassel, das 500 Fahrräder an 50 Stationen bereit hält, zu nutzen (konrad-kassel.de). Für Einzelgänger empfiehlt sich der Mediaplayer "d-Maps": Die kostenlose Applikation, die man schon daheim downloaden kann, liefert Hilfen zur Orientierung vor Ort und gibt mit kurzen Statements der Künstler und Kuratoren  Einstiegshilfen (www.documenta.sparkasse.de/dMAPS).
Mit der Sparschiene der Deutschen Bahn ist die Anreise nach Kassel nicht nur kostengünstig, sondern auch entspannt. - www.deutschebahn.com
Bilder: dpk-Wolfgang Richter

 

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