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Auf der Couch und auf dem Küchentisch

REST DER WELT / ZÜRICH / PELLÉAS ET MÉLISANDE

15/05/16 In Dimitri Tcherniakovs Zürcher Neuinszenierung von Claude Debussys Pelléas et Mélisande wird die psychologisch verstörte Mélisande zur erfolglos Therapierten durch selbst Therapiebedürftige.

Von Oliver Schneider

Die Wiener Festwochen haben ihre geplante Zusammenarbeit mit dem russischen Regisseur und Bühnenbildner Dimitri Tcherniakov für Beethovens Fidelio im Juni im Theater an der Wien vorzeitig aufgekündigt. Unabhängig von den Gründen ist dies bedauerlich. Denn wie sein Zürcher Pelléas zeigt, haben seine Arbeiten Hand und Fuß, sind durchdacht und ohne Bruch, auch wenn man darüber streiten kann, ob die Interpretation dem eigenen Gusto entspricht.

Golaud findet Mélisande im Wald, nimmt sie zur Frau, bringt sie zu seiner Familie, wo sie auf seinen Halbbruder Pelléas trifft und die beiden sich ineinander verlieben. Tcherniakov erzählt die symbolistisch verschattete Dreiecksgeschichte aus psychiatrisch-psychologischer Sicht. Golaud behandelt die traumatisierte Mélisande als Arzt und nimmt sie im Rahmen seiner Behandlung zu seiner Familie mit.

Man lebt in einer schicken, in Weiß und in Beigetönen gehaltenen Villa, in der die verschiedenen Generationen scheinbar ganz normal miteinander leben. Eben nur scheinbar, denn schnell wird klar, dass hier nicht nur Golaud der Psychiater ist, sondern auch die anderen versuchen, Mélisande zu therapieren. Angefangen von Golauds Sohn aus erster Ehe, Yniold (ausgezeichnet der Tölzer Knabe Damien Göritz), bis zum greisen Großvater Arkel.

Ob Golaud Mélisande helfen kann, ist eine andere Frage, denn im Rahmen seiner Traumatherapie übermannen ihn seine eigenen Gefühle immer heftiger und brutaler. Die anderen schauen regungslos zu, wenn er Mélisande schlägt. Haben sie das alles schon einmal erlebt? Was war mit Golauds erster Frau? Gibt es hier einen dunklen Fleck? Ist Yniold deshalb so in sich gekehrt, läuft im Haus mit übergroßen Kopfhörern herum, um sich in seiner eigenen Welt abzuschotten? Claude Debussy und Maurice Maeterlinck konzentrieren sich auf den Moment, lassen die Fragen nach Gründen und Vergangenheit bewusst offen. Tcherniakov beantwortet sie implizit, indem er die dunklen Punkte in Golauds Vergangenheit – und jener seiner Familie – andeutet. Und, wie so oft, sucht der Verletzte, der Gestörte, immer von neuem die Situation, die ihn aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Mélisande wird damit zum Behandlungsmittel degradiert, lässt aber auch alles widerstandslos mit sich geschehen.

Nur Pelléas schafft es, aus dem Tollhaus auszubrechen, indem er mit Rollkoffer und Tramper-Rucksack abzieht; die Tötung gemäß Libretto durch seinen Bruder fällt aus. Auch er versucht sich ansatzweise als Therapeut, verliebt sich dann aber wirklich in Mélisande. In der Turmszene zu Beginn des dritten Aktes liegen die sich Liebenden nebeneinander auf dem Esstisch. Die ehrliche Antwort auf Golauds Frage auf Mélisandes Totenbett, ob sie bei ihrer Liebe schuldig geworden sind, lässt die Situation offen.

Dass man in Zürich auf archaische Handlungsorte in einem finsteren Schloss, am Meer oder im Park verzichtet, ist deshalb entbehrlich, weil man sich in einer Welt von Träumen und Fantasien Kranker befindet, die den Zuschauer mit ihren Worten an diese Orte mitnehmen. Und natürlich Claude Debussys Klangmystik. Am Pult der Philharmonia Zürich steht Alain Altinoglu, der weite Bögen über Debussys farbenreiche Klangräume spannt und gleichzeitig für ein ausgewogenes, transparentes Klangbild sorgt. Mal duftig-zart, dann wieder bedrohlich wie im Zwischenspiel nach der zweiten Szene des vierten Akts. Man darf gespannt sein, wie Altinoglu Pelléas et Mélisande 2017 mit dem Wiener Staatsopernorchester erklingen lassen wird.

Kyle Ketelsen gibt den hier selbst traumatisierten Golaud mit heldischem Timbre, Jacques Imbrailo besitzt für den Pelléas die seelisch berührenden wie die dramatisch packenden Töne. Corinne Winters ist eine darstellerisch gute, stimmlich aber zu unauffällige, zu wenig leuchtende Mélisande. Brindley Sherratt als elegant kraftvoller Arkel macht seine Liebesbemühung um Mélisande im vierten Akt zu einem Höhepunkt des Abends. Yvonne Naef ist eine die Szene beherrschende, Distanz haltende Geneviève.

Weitere Vorstellungen bis 29. Mai – www.opernhaus.ch
Bilder: Opernhaus Zürich / T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf

 

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