Romeo und Julia

OPERNHAUS GRAZ / ROMEO UND JULIETTE

15/11/16 Eine an der Oberfläche scheinbar ganz traditionelle Inszenierung mit unzähligen feinen und feinsten Brechungen und tiefenpsychologischen Unterströmungen zieht unwiderstehlich in ihren Bann: „Romeo und Juliette“ ist szenisch ebenso subtil und präzise gearbeitet, wie musikalisch und sängerisch.

Von Heidemarie Klabacher

Der Innenraum eines düsteren Backsteinbaus, rund und gedrungen wie ein Wasserspeicher, Wehr- oder Flakturm, ist der Schauplatz. Die Pracht im Palazzo Capulet ist so aufgesetzt, wie die Tafel, die von einer parademäßigen Schar Dienstmädchen und Lakaien herein getragen und prunkvoll eingedeckt wird. Ohne ein Tafeltuch aufzulegen freilich… Neureich? Der „alte“ Capulet – in Graz als junger elastischer Typ darstellerisch und vor allem sängerisch überzeugend gegeben von Markus Butter – erinnert ein wenig an den Faninal aus dem Rosenkavalier: Auch er ein Neureicher, der sein Selbstbewusstsein nur aus ins Kraut geschossenem Reichtum ziehen kann. Wohl deswegen sind diese Capulet/Faninal denn auch so versessen darauf, über alles Gefühl und allen Geschmack hinaus, ihre Töchter um jeden Preis an einen Adeligen zu verschachern.

Der Graf Paris in „Romeo und Juliette“ ist freilich ein harmloser Tölpel, dem Ivan Orešcanin in der Regie vom Ben Baur durchaus liebenswürdige Züge verleihen darf. Nicht nur ein Intrigant und Raufbold, sondern ein ebenfalls neureicher Schnösel von widerlichster Selbstgefälligkeit ist in Ben Baurs präzise charakterisierter Personnage Taylan Reinhard als Tybalt: Er lässt der Hausdame Gertrude – mit Dshamilja Kaiser luxuriös besetzt – herausfordernd den Mantel vor die Füße plumpsen und gibt sich gekonnt als ausgewachsenes aber psychisch labiles Ekel. Sein unzeitiger Tod wird nicht bedauert, sehr wohl das alsbaldige Verklingen dieser strahlenden sicher geführten Stimme.

Dariusz Perczak als Mercutio, Manuel von Senden als Benvolio, Anna Brull als Stéphano oder ganz besonders Peter Kellner als Bruder Laurent – alle größeren und kleineren Rollen bis hin zur dämonischen Fürstin von Irena Panzenböck sind darstellerisch typengerecht und sängerisch-technisch hervorragend besetzt. Sie bilden gemeinsam tatsächlich ein „Ensemble“. Bieten in Summe also sehr viel mehr als nur das so oft zu erlebende neben- und hintereinander Auftreten von künstlerischen Einzel-Persönlichkeiten.

Diese Geschlossenheit wurde bei der Premiere (wie mehrere Rollen ist auch das Dirigentenpult doppelt besetzt) ganz wesentlich mitgegründet und mitgetragen von Robin Engelen am Pult des Grazer Philharmonischen Orchester. Die so klangfarbenreiche, ja immer wieder üppige Partitur von Charles Gounods Grand Opèra ist im opulenten Schwelgen ebenso präzise ausgeleuchtet, wie in den feinen Linien etwa der bewegenden Cellosoli. Die mit der französischen großen Oper untrennbar verbundene Ballettmusik kommt in dieser Produktion zu ihrem vollen Recht und damit zu überzeugender Wirkung: Die Tänzerin Lucie Horná und der Tänzer William Banks ziehen in der überaus klassisch gehaltenen Ballettchoreographie von Beate Vollack neben dem Sängerpaar eine zweite Handlungs- und Sinnebene ein: keine simple Verdoppelung der Hautpstory, sondern eine eigenständige Traum-Ebene, eine der vielen verfremdenden Facetten.

Auch das kleine Mädchen mit der Puppe, beide in grünen Samt gekleidet, wandert als eine berührende und durchaus beunruhigende „Verfremdung“ durch die Produktion. Das Mädchen ist entweder eine Erinnerung der erwachsenen Julia, deren Gewand von Kostümbildern Uta Meenen ebenfalls in Grün und Schwarz gehalten wurde. Oder es ist doch ein Geist, der durch die unheilvolle, von verschiedensten Strömungen des Begehrens durchzogenen Atmosphäre. (Benjamin Brittens Missbrauchs- oder Geister-Oper „The Turn of The Screw“ fällt einem mehr als einmal ein, während Romeo und Juliette ihrem Ende entgegen singen. Eine weitere „englische Anspielung“ – und damit zugleich eine Verbeugung vor William Shakespeare, auf dessen Drama die Oper basiert, ist etwa die Projektion eines englischen Landhauses und dessen Garten für die Garten- bzw. Balkonszenen. Und die Montagues gebären sich als englische Landedelleute (eher niedrigeren Adels) bei der Jagd. So hat auch der zum Zerteilen aufgehängte Hirsch volle Berechtigung als ein unheilvolles Symbol.

Fehlt die tiefste Verbeugung vor den sängerischen und darstellerischen Leistungen von Sophia Brommer und Kyungho Kim als Romeo und Juliette. Die Schwierigkeit, ein bestenfalls halbwüchsiges Mädchen mit einer erwachsenen Sängerin besetzen zu müssen, wird in diesem Glücksfall von Casting und Regie nicht einen Augenblick spürbar. Sophia Brommer ist darstellerisch von Anfang an eine bei aller sehnsüchtigen Verträumtheit durchaus selbstbewusste junge Frau. Sie gebietet über einen in allen Lagen strahlenden klaren Sopran, mit dem sie unzählige Schattierungen und Klangfarben zu mischen weiß. Kyungho Kim singt die nicht weniger fordernde Partie des wohl größten und vertäumtesten Liebenden der Opern- und Dramenliteratur mit traumwandlerischer Sicherheit und Souveränität. So überraschend die Spitzentöne der Emotion in seiner Partie auch oft kommen, ist dennoch jeder einzelne so perfekt geerdet und auf großem ruhigen Atem gesungen, wie die weiteste Kantilene. Das Timbre dieser Stimme ist weich und rund, doch bei perfektem Stimmsitz sind die Töne und Linien präzise und genau konturiert, ist das Parlando lebendig.

Auch darstellerisch begeistert dieses Traumpaar mit selbstverständlicher Natürlichkeit. Oper? Nein, das ist fast schon das Leben. Regisseur Ben Baur hat aus den unwahrscheinlichen, ja phantastischen Verstrickungen und Verwirrungen eine geradezu „selbstverständliche“ Liebesregie herausgearbeitet - der Traum einer einzigen Sommernacht.

Romeo und Juliette – die nächste Vorstellung ist am Donnerstag (17.11.) um 19-30 Uhr im Opernhaus Graz - www.oper-graz.com
Bilder: Opernhaus Graz / Werner Kmetitsch