Gesiegt hat die Majestät, die Wurst

REST DER WELT / GRAZ / SECONDHAND-ZEIT

06/12/16 „Nur ein Sowjetmensch kann einen Sowjetmenschen verstehen“, heißt es einmal etwas pessimistisch. Erklärung vielleicht, dass die Bücher der Swetlana Alexijewitsch, immerhin Literaturnobelpreisträgerin 2015, doch etwas für Menschen mit ausgeprägter Neugier für osteuropäische Befindlichkeit geblieben sind.

Von Reinhard Kriechbaum

Welcher „Westler“ hat denn schon wirklich wenigstens eines aus der gewaltigen Prosa-Fünfergruppe (beginnend mit „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, endend mit „Secondhand-Zeit“) durchgeackert? Dieses Wort, und nicht das legere „gelesen“ ist am Platz für Alexijewitsch' dokumentarischen Stil: Die Journalistin erfindet nicht, sondern sie montiert authentische Aussagen von unzähligen Menschen. Auch „Secondhand-Zeit“, nun in Graz auf die Bühne gebracht, ist ein solches O-Ton-Monument, ein Szintigramm des Wort gewordenen Bauchgefühls.

Gegenstand der Röntgenblick-Untersuchung: die malträtierte Sowjet-Seele, der 1991 so gut wie alle Werte, die ihr über Jahrzehnte aufgedrückt worden waren, innerhalb weniger Monate genommen wurden. Was geht vor im Verteidiger von Brest, wenn er die Plaketten und Orden für Verdienste um den Sowjetstaat als Reiseandenken-Ramsch für Touristen wieder findet? „Meine Zeit war schneller zu Ende als mein Leben“, sagt einer resignativ, und fügt trotzig an: „Meine Zeit war eine große Zeit!“ Was sollte er sonst sagen, wollte er nicht die Selbstachtung mit Füßen treten?

Die Spanierin Alia Luque brachte „Second-Hand“ nun als Sportstück auf die kleinere Bühne des Grazer Schauspielhauses. Zwei Männer und zwei Frauen üben sich im Dauerlauf und in permanenten gymnastischen Verrenkungen und Lockerungsübungen. Wie eine Stafette übergeben sie einander das Wort. „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ ist kein pfiffiger Titel und der Text alles andere als Ausgangspunkt für einen liquiden Theaterabend. Und doch ist letztlich erstaunlich viel Drive drin, wenn die Argumente herausgepresst werden aus Menschen, die wie Zitronen nahe am Verdörren wirken.

Die Sportsfreunde der mühsamen Disziplin Selbst-Rechtfertigung verausgaben sich vor einer Video-Kulisse aus Schnipseln der Zeitgeschichte vor und nach der Wende. Gorbatschow ist plötzlich Hauptfigur in einer Pizza-Hut-Werbung. Einer sagt: „Gesiegt hat die Majestät, die Wurst“. Wie war das doch mit Brecht, dem Fressen und der Moral? Glasnost: So durchsichtig war es nicht, was kommen würde: die gelebte Nicht-Utopie, das ideologische Vakuum. Der Eintausch der kommunistischen Chimäre gegen eine Konsumgesellschaft ohne greifbare Werte. Der Titel „Second-Hand“ wirkt so gesehen beinahe euphemisch. Es sind ja nicht einmal Werte aus zweiter Hand, auf denen die neue Gesellschaft aufbaut. Wen wundert's, wenn viele die Vergangenheit verklären und angesichts des Hochmuts der Oligarchen in ihrer Erinnerung die alten kommunistischen Potentaten wie niedliche, tröstende Kuscheltiere herumgeistern? „Kein chickes, ein normales Leben“ erträume er für sich, meint einer ganz unprätentiös. Man möchte ihm sofort Beifall spenden.

Durchaus marktschreierisch zugespitzt wird – im Buch wie in der Dramatisierung –, dass der Westen all diesen Menschen, so sehr sie auch für die Perestrojka brannten, nicht mehr als hypervolle Supermarktregale zugeliefert hat. Markenbewusstsein statt kommunistischer Ideale, ein fragwürdiger Tausch. Verbreitete Ansicht: Bloß nicht an Putin rühren, der nächste Despot ließe nicht auf sich warten und auch nicht der nächste, „typisch russische“ Aufstand: „sinnlos und ohne Erbarmen“.

Im Sport-Setting der Grazer Aufführung wird klar: Die Trauerarbeit in Sachen Ideologie, die den Bach runter ist, bedingt viele leere Kilometer. Viele Sprints, mit oder ohne Fehlstart, führen ins Nichts.

Aufführungen bis 20. Jänner im Grazer Schauspielhaus, Haus zwei – www.schauspielhaus-graz.com
Bilder: Schauspielhaus Graz / Lupi Spuma