Ich-AG, hoffnungslos abgewirtschaftet

REST DER WELT / LINZ / KRANKHEIT DER JUGEND

16/05/17 Zwei vertrocknete Pizzaschnitten sind noch da. "Iss das", sagt Feder zu Marie. Sie: "Es wird weitergelebt." Er: "Essen sollst du!" Das ist das eine Ende. Das endgültige für jene jungen Leute, die ein Stück lang wortreich von sich weg geschoben haben, dass sie "zur Verbürgerlichung geboren" seien. Dieses Weiterleben ist fast ein Tod.

Von Reinhard Kriechbaum

Aber da ist noch die andere Finalfassung für Ferdinand Bruckners Stück "Krankheit der Jugend". Die ist wirklich letal für Marie, die hoffnungsvolle Jung-Ärztin, deren Fest zur Promotion in verheerendem Kreisel-Sog sich zur Beziehungs- und Lebenskatastrophe verdichtet hat. "Krankheit der Jugend" ist 1926 ja an zwei Orten uraufgeführt worden, an aufeinanderfolgenden Tagen. In den Hamburger Kammerspielen ging es tödlich aus für Marie, im Lobe-Theater in Breslau wurde weitergelebt. Beide Fassungen sind also authentisch.

Christine Eder bietet im Linzer Theater Phönix beide Optionen an: zuerst die krasse Variante, dann eine Rückblende. Auf geht's ins illusionslose Nicht-Sterben! Hat etwas, diese Schluss-Verdoppelung: Die Protagonisten in Ferdinand Bruckners rabenschwarzer Jugend-Analyse haben ja selbst zu keinem Zeitpunkt gewusst, was die nächsten fünf Minuten bringen werden.

Alles geht und nichts geht, alles ist offen und doch jede Tür nach draußen versperrt: Desolater hatte bis dahin keiner eine Jugend beschrieben, die ausweglos selbstreferentiell denkt und mangels irgendwelcher Vorbilder auf sich selbst zurück geworfen ist. "Was brauchen wir Ärzte in dieser verrotteten Zeit?" Ist Ferdinand Bruckners Text das unverzichtbare Stück zur Ich-AG unserer Tage?

Man muss schon ein wenig nachhelfen. Gar zu gespreizt, gar ein wenig aufdringlich konstruiert kämen manche Dialoge daher. Die Regisseurin hat diese Gefahr gesehen. Die Studenten-WG siedelt sie, ohne vordergründige Hippie- oder Blumenkind-Zitate, vielleicht in den Achtundsechzigern an. Was ist damals in den WGs diskutiert worden, wie eloquent um sich geworfen mit fertigen Denk- und Formulierungs-Versatzstücken! So hält man es auch in der Linzer Inszenierung: Da sind die schneidig-selbstbewussten Antworten fast schon da, ehe die angriffigen Fragen so recht ausgesprochen sind. Ein beständiger Schlagabtausch, eine beängstigend geschliffene Rasanz der Leere. Doch dann plötzlich tun sich in diesem von der Regie und einem starken jungen Ensemble hochmusikalisch synchronisierten verbalen Schlagabtausch die nötigen kleineren und größeren Gedankenpausen auf. Plötzlich blickt man in die Seelen, in die früh geleerten (oder gar nie aufgeladenen) Batterien der jungen Menschen.

Anna Maria Eder ist die Marie, die von der Zurückhaltenden zur Fordernden wird, mit gebündelten Temperamentsausbrüchen taumelnd zwischen den Beziehungen. Die drei anderen Frauen sind alle charaktermäßig ein klein wenig Marie: tendenziell lasziv, aber voller Frust ob uneingelöster Erwartungen Desiree (Marion Reiser); stocksteif die karrierebewusste, aber eben nur an der Oberfläche gefühlskalte Irene (Lisa Schrammel); strohdumm das Landei Lucy (Nadine Breitfuß), das sich sogar einreden lässt, auf den Strich zu gehen.

Strippenzieher ist der vor Selbstbewusstsein schier berstende Feder (David Fuchs). Ein Tunichtgut, der so tut, als täte er jeder der Frauen gut. Für alle ist er letztlich Magnet, weil lebendes Sinnbild verlorenen oder nie gefundenen Lebenssinns. In diesem differenziert gezeichneten und ohne Schwächen umgesetzten Psychogramm sind auch die männlichen Randfiguren – Felix Rank als der weltfremde Jungpoet Petrell und Markus Hamele als der notorische Frauen-, ja Menschenversteher Alt – mehr als Stichwortbringer.

Wichtig ist auch der als Live-Elektroniker mit Theremin-Klängen in Erscheinung tretende Musik-Mixer Thomas Butteweg: Er hat viel Anteil an der letztlich doch eher orts- und zeit-ungebunden wirkenden Inszenierung, genauso wie das stimmungsvolle Nichts an Bühne von Monika Rovan. Bloß schwarze Gaze-Vorhänge, auf die mit bunten Klebebändern in riesigen Buchstaben die Namen der Protagonisten geschrieben sind. Nicht zu vergessen auf ein paar Matratzen. Auf einer davon wird Desiree ihr junges Leben mit Gift beenden und so die beiden unterschiedlichen Finalszenen mit Marie und Feder einleiten. Ein ultrakurzer, aber intensiver Abend.

Aufführungen bis 18. Juni im Linzer Theater Phönix – www.theater-phoenix.at
Bilder: Theater Phönix / Christian Herzenberger