Allzeit bereit für den Verführer

GRAZ / OPER / DON GIOVANNI

14/02/20 Was für ein erotischer Kick: Der unbekannte Mann dreht ein Handy-Video und Donna Anna räkelt sich in der Unterwäsche. Aber dabei bleibt es nicht. Voller Wollust macht sie sich über Don Giovanni her. Das Stelldichein ginge eindeutig aus, platzte nicht der Komtur herein.

Von Reinhard Kriechbaum

Die deutsche Regisseurin Elisabeth Stöppler denkt in der Grazer Oper über Mozarts Don Giovanni auch sehr aus weiblicher Perspektive nach. Klar, er ist ein Womanizer, der nicht genug kriegen kann. Aber dass das funktioniert, hat sehr mit den Frauen und ihren unerfüllten Begierden zu tun. Präzise ist in dieser Inszenierung herausgeschält, was für ein einfältiger Liebhaber Don Ottavio ist, der sogar noch, nachdem er das inkriminierende Video mit Donna Anna gesehen hat, zu stereotypen Liebesbeteuerungen ausholt. Ein für die Verlobte völlig uninteressanter Typ.

Mit Zerlina verhält es sich nicht viel anders. Was soll die angesichts der sich spontan bietenden Don-Giovanni-Option noch anfangen mit Masetto, der ja doch nur sein Motorrad im Kopf hat. Solche wie Zerlina und Masetto gibt es übrigens dutzendweise. Der ganze Chor ist gekleidet wie die beiden.

Don Giovanni kann für sich münzen, was im Grunde offen da liegt. Da braucht er gar nicht der große Charmeur, der gefinkelte Verführer zu sein. Der Gestalter der Titelpartie, der Weißrusse Alexey Birkus, in seiner optischen Erscheinung bestens zum Gesamtbild, das die Regisseurin entwirft: der nette blonde Nachbar, nicht der erotische Hammer, aber immer da und geeignet für jede sinnliche Projektion...

In diesem Don Giovanni ist jede Figur aufmerksam, psychologisch einleuchtend gezeichnet. Leporello ist allzeit dienstbarer Geist – aber in der Kemenate ganz oben im weißen, stylischen Wohnturm, in dem alle ihre Zimmer haben, sitzt seine Ehefrau, ein Kleinkind im Arm. Das ist übrigens vom Libretto absolut gedeckt, da ist einmal die Rede von ihr. So nebenbei wird im Laufe dieses Abends Leoporellos Ehe zerbrechen. Wenn es ein Opfer gibt, ist es der Diener des Frauenhelden.

So schlüssig und erzählfreudig dieser Don Giovanni im Szenischen, so durchwachsen ist die Aufführung musikalisch. Andrea Sanguineti am Pult laviert etwas unentschlossen zwischen dem Temperament eines italienischen Opernkapellmeisters und dem einen oder anderen Aufflackern aufführungspraktischer Informiertheit. Über manche Strecken schickt er das Grazer Philharmonische Orchester recht forsch und vorlaut auf den Weg. Vor allem die Damen wirken in der ersten Hälfte eindimensional: Donna Elvira (Anna Brull) sehr auf dramatische Entäußerung fokussiert, Donna Anna (Katerina Tretyakova) etwas starr in der Stimmführung, Zerlina (Eva-Maria Schmid) ein Stück weit weg von Lockerheit, gar Keckheit. Erst nach der Pause nimmt – bei etwas zurückhaltenderem Orchester – die vokale Flexibilität zu. Da hat vor allem Donna Elvira einmalig berührende, glaubwürdige lyrische Momente.

Deutlich konturenstärker Alexey Birkus, ein Don Giovanni mit geschmeidiger Stimme, gestalterisch stets gerade so präsent und stilsicher, dass er nie ans Outrieren streift. Pavel Petrov als Don Ottavio setzt seinen Tenor-Schmelz völlig unprätentiös ein, und das passt besonders gut zum ambivalenten Bild, das die Regisseurin von ihm und mit ihm zeichnet.

Am vielschichtigsten der Leporello von Neven Crnić, der offenkundig wie en Hund darunter leidet, dass er als Diener nicht die leiseste Chance hat, von Don Giovannis Machenschaften loszukommen. Ziemlich genial der Kunstgriff, dass ausgerechnet das Halstuch seiner Ehefrau zum wichtigen Requisit wird in jener Szene, da Leporello als Platzhalter seines Herrn Donna Elvira (zu) nahe kommt. Elisabeth Stöppler hält in ihrer Inszenierung eine ganze Reihe vielsagender Ideen bereit, die alle unmittelbar die Persönlichkeiten und die Seelen-Deformierungen der Handelnden erhellen. Den Kontur gibt es als Sänger (Dmitri Lebamba) und als allgegenwärtigen Wanderer durch die Szene (Rudi Widerhofer).

Wie löst man nach einer so gediegen analytischen Personen-Aufschlüsselung, in der immer wieder Großproduktionen der mit Live-Kamera aufgenommenen Gesichter eine wichtige Rolle spielen, das Lieto fine? Zuerst mit einer überrumpelnden Video-Porträt-Installation zu einer Musikkonserve. Aber bald sind alle wieder singend auf der Bühne, schwarz gekleidet, wie in Trauer: Mit Don Giovanni hat für sie alle auch ein gutes Stück Hoffnung die Bühne dieser Welt verlassen.

Aufführungen bis 7. Juni – www.oper-graz.com
Bilder: Grazer Oper / Werner Kmetitsch