Das Feuer ist in den Köpfen

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29/11/22 Kann man Dostojewskijs politischen Nihilismus, sein Nachdenken über Gott und eine versinkende alte Welt, wie es den Roman „Dämonen“ durchzieht, auf die Bühne übertragen? Johan Simons macht dem Versuch und verlangt dem Publikum im Burgtheater dafür ein gerüttelt Maß an Sitzfleisch und Geduld ab.

Von Reinhard Kriechbaum

„Ich weiß nicht, wieso ich hier bin“, ist Nikolajs erster Satz nach der Pause, und dafür gab’s spontan Zwischenapplaus, den einzigen an diesem Abend. Zu diesem Zeitpunkt hatten einige Premierenbesucher bereits für sich beantwortet, dass ihnen der Grund fürs Hier-Sein in den satten zweieinhalb Stunden des ersten Teils nicht recht hatte erschließen wollen. Davon zeugten so manche frei gewordene Plätze. Ein durchwachsener, letztlich über vierstündiger Abend, eigenwillig pendelnd zwischen Betriebsamkeit und Lähmung, zwischen krassem Outrieren und bezwingend argumentationsstarken Momenten. Ein beständiges Wechselbad.

Dostojewskijs „Dämonen“ („Böse Geister“ in der Übersetzung von Svetlana Geier, auf der die Textfassung im Wesentlichen beruht) treiben ein buntes Völkchen der dekadenten vorrevolutionären russischen Gesellschaft vor sich her. Sie alle spüren instinktiv, dass da ein System an sein Ende stößt. Mit komplizierten unbewältigten Liebesgeschichten werden also ideologische Fragen mitverhandelt. Vollmundig berufen sich einige auf Gott, ohne auch nur entfernt an dessen Existenz zu glauben. Gerade jetzt wieder arbeiten Orthodoxie und Putin in diabolischen Symbiose einander zu – in den „Dämonen“ ist viel von dem Gedankengut eines vermeintlich auf göttliche Ordnung sich gründenden russischen Staatswesens vorgezeichnet. Angst und bang könnte einem werden bei mancher Argumentation.

Johan Simons hetzt all diese Leute wie in einem goldenen Käfig auf- und gegeneinander. Nadja Sofie Eller hat ihm eine Bühne aus metallisée-schimmernden Wänden ohne Türen gebaut. So hermetisch abgeschlossen und doch so riesenhaft. Da können klaustrophobische Gefühle ebenso aufkommen wie Agoraphobie. Unmengen unterschiedlicher Sitzmöbel stehen herum, bilden Inseln, werden herumgeschoben. Meistens sind alle Protagonisten zeitgleich auf der Bühne, und das ist ein starkes Signal: All diese Leute wissen im grunde genau Bescheid übereinander, über ihre menschlichen und politischen Ausweglosigkeiten.

Wollte man aus den „Dämonen“ vor allem die verunglückten Liebesgeschichten herausarbeiten, käme eine bizarre Tragikomödie heraus. So leicht macht es Johan Simons weder sich noch seinem Publikum. Er führt uns die Handelnden mit bizarren Neurosen vor, wie sie Tiere in zu engen Käfigen entwickeln. Mehr Exaltiertheit als Depression.

Nicholas Ofczarek ist ist der gewesene Frauenheld Nikolaj, dessen Erscheinen in der nicht näher definierten kleinen Stadt Betriebsamkeit auslöst. Seine Mutter Warwara (Maria Happel) ist eine Beziehungs-Arrangeurin, deren Wortschwällen niemand gewachsen scheint. Aber sie wird ob des Ganges der Dinge fast vollends verstummen. Der bei ihr wohnende erfolglose Dichter Stepan (Oliver Nägele) hat sich in eine Fantasiewelt aus Humanismus und Liberalismus hinein spintisiert, urteilt aber doch messerscharf: „Öffentliche Meinung machen die Arbeitenden“. Dazu zählen all die Leute hier gewiss nicht, von denen ein jeder irgendeinen Faden in Händen zu halten glaubt, an dem er sich in eine ungewisse Zukunft hinüber zu hanteln hofft. Aber diese Fäden sind zu kurz und zu sehr verwickelt ineinander obendrein. Wir machen hier gar nicht den Versuch, das aufzudröseln.

Um Nikolaj schwirrt ein Grüppchen ganz eigenartig sich gebärdender Frauen. Lisa (Birgit Minichmayr) wirkt wie einem Zirkus entsprungen, schlägt gerne mit der Kamelgerte um sich und inszeniert sich als persönlichkeitsstarke Femme fatale. Ganz anders Dascha (Dagna Litzenberger Vinet), die beinah verstummt ist, wie willenlos ferngesteuert wirkt. Aus einer Laune heraus hat Nikolaj einst im Geheimen die behinderte Marja (Sarah Viktoria Frick) geheiratet. Sie tanzt und humpelt jetzt im Tütü herum, als eine mehr als skurrile Balletttänzerin. Ihr Bruder, der versoffene Ignat, versucht Nikolaj zu erpressen, der die Ehe weiterhin geheim zu halten trachtet, vor allem vor seiner Mutter, die für ihren Sohn Hochzeitspläne mit Lisa ausheckt. In einer beeindruckenden Szene ist Nikolaj ausnahmsweise alleine auf der Bühne und legt so etwas wie die Beichte seines Lotterlebens ab. Er schildert minutiös und scheinbar emotional unbeteiligt, wie sich eine junge Frau, nachdem er mit ihr ein Verhältnis begonnen hatte, erhängt hat. Damit liefert Nicholas Ofczarek einen schauspielerisches Bravourstück.

Zu der Melange aus privaten Menetekeln in den „Dämonen“ kommt die politische Agitation des zwielichtigen jungen Pjotr (Jan Bülow), der aus dieser Versammlung von Orientierungslosen eine sozialistische Keimzelle formen möchte. Nikolaj soll als „Aristokrat, der sich dem Volk verschreibt“ nach Pjotrs Vorstellung eine Führungsposition einnehmen.

Immer wieder hält Johan Simons den gesellschaftliche Pyseudo-Totentanz an, in dem diese Gesellschaft ziemlich überdreht einem für viele letal endenden Fiasko entgegen taumelt. Er lässt dann eine Figur nach der anderen ihre politischen Ansichten darlegen – und da wird der Abend verdammt mühsam, auch wenn man diese Elogen allemal als Zitatsammlungen mit Gewinn ausschlachten könnte. Da erweist sich, dass die „Dämonen“ eben doch durch und durch Roman sind, in Ruhe gelesen und reflektiert sein wollen. Vieles aus dieser Gedankenwelt verpufft auf der Bühne, und so hat der Abend letztlich viel Uneingelöstes. Viel Energie auf Zuseherseite geht mit dem Verfolgen von Vorgeschichten und Handlungssträngen auf.

„Das Feuer ist in den Köpfen und nicht auf den Dächern“, sagt die hellsichtige Marja gegen Ende. Diese Brandherde auszukundschaften, erfordert im Burgtheater Geduld und Sitzfleisch.

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Bilder: Burgtheater / Matthias Horn