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Polaroids vom echten (Un)Leben

REST DER WELT / STEIRISCHER HERBST / ENZYKLOPÄDIE DES UNGELEBTEN LEBENS

08/10/10 Wenn - ja wenn die Sache bloß ein wenig anders gekommen wäre! Wenn zum Beispiel die spontane Liebschaft zu einer weiteren Begegnung geführt hätte. Aber da war das Wetter schlecht, der Flug nach Rom, zum vereinbarten Treffen, ist einfach ausgefallen. Hat nicht wollen sein, die dräuende Umstellung der Lebens-Weiche.

Von Reinhard Kriechbaum

Wie viele Buchstaben müsste eine "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" haben, wie viele braucht man, um einen Gedankensprung zu den kurz sich öffnenden, aber dann doch schicksalhaft verschließenden Möglichkeiten zu formulieren? In Graz hat man es ausprobiert, in einer Koproduktion zwischen "steirischem herbst" und Schauspielhaus. Autoren - vorwiegend solche, die in den vergangenen Jahren beim "steirischen herbst" zu Wort, zu Aufführungsehren geklommen sind - wurden eingeladen, sich Gedanken über die ungenutzten Perspektiven im Leben zu machen. Ein ganzes Alphabet ist nicht herausgekommen, aber doch ansehnlich viele Buchstaben. Lyrik und Prosa, pointierte Apercus und etwas größere Feuilletons, ultra-kurze dramatische Szenen oder mehr ins Philosophische neigende Überlegungen. Achtzehn Autorinnen und Autoren haben geliefert, zwei Texte hat der argentinische Autor und Regisseur Mariano Pensotti (Jahrgang 1973) selbst beigetragen.

Auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses finden wir uns auf einem Flohmarkt wieder. Ein anschauliches Bild, es liegt herum, was übriggeblieben ist vom Leben anderer Leute. Vielleicht sogar von deren ungelebtem Leben. Dann sind die Utensilien wohl gleich in den Keller oder auf den Dachboden gewandert. Hinter dem wohlfeil ausgebreiteten Tand sind drei winzige Guckkasten-Bühnen. Nicht mal zwei mal zwei Meter Spielfläche jeweils. Die Lebens-Optionen brauchen nicht viel Platz.

Drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler leben Szene um Szene, reichen einander Requisiten zu. Es findet sich im Flohmarkt-Strandgut immer wieder Passendes, und im günstigen Fall schafft das vermeintliche Improvisieren mit den Dingen ironische Brechung (so wie die Pop-Musik zu jeder Szene immer Kommentar ist). Ein Bild von einer Palme muss für den Urlaubstraum stehen. Ein Kaffeehaustisch ist allemal gut für Dialoge, die meist so herrlich ins Nichts, jedenfalls am Gegenüber vorbei führen. Mancher Text dient bloß als Script für einen wortlosen Sketch, anderes wird explizit "ausgespielt" oder rezitiert. Dauernd werden auf der Bühne Polaroids geschossen, auch das oft mit ironischen Touch.

Die Autoren: einige Argentinier und Amerikaner sind darunter, der Libanese Rabih Mroué, die Kroatin Ivana Sajko, der Pole Andrzej Stasiuk. Aus Deutschland haben sich Dietmar Dath, Marcus Steinweg und Joseph Vogl eingebracht, Österreich ist mit Friederike Mayröcker, Kathrin Röggla, Händl Klaus, Gerhild Steinbuch und sogar Elfriede Jelinek auffallend prominent vertreten.

Durch die Übersetzung ins Deutsche geht die alphabetische Ordnung (mit Schlaglöchern auch in Originalsprache) natürlich verloren, aber das macht nichts. Etwa die Hälfte der Texte wäre englisch, in Graz macht man alles auf Deutsch.

Z wie Zündholz: Der Text von Elfriede Jelinek steht - Z auch wie zwangsläufig - am Ende, und das ist gut so, nicht nur weil so der einzigen Nobelpreisträgerin in der Runde gebührende Ehre widerfährt. "Man beugt sich ja nicht übers Leben, um in einem Sinn herumzurühren, den etwas bekommen könnte", sinniert sie. "Der Sinn ist schon angerührt, wenn man in die Speichen des Lebens hineingreift, aber nichts kann die Welt aufhalten, in der jeden Moment Gefahr heraufzieht." Und sich glücklicherweise auch wieder verzieht, ohne dass der Schutzmantel der Unnahbarkeit, mit dem sich die Jelinek seit je her umgibt, zerstört wird. Auch wenn ihr Gegenüber zündelt, fängt sie nicht Feuer, sie bleibt passiv: "Ich ergreife die Gelegenheit nicht, weil ich überhaupt keine Gelegenheit ergreife."

Aufführungen im "steirischen herbst" 9. und 12. Oktober; weitere Aufführungen bis 22. November. - www.steirischerherbst.at; www.schauspielhaus-graz.com
Bilder: Bühnen Graz / Peter Manninger

 

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