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Die Angebetete hinter dem Spiegel

GRAZ / WERTHER

03/02/11 Mit einem Fingerschnipser kann Werther Szenen, die ihm wichtig sind, wiederholen. Sie für sich noch einmal herbeizaubern. Das Erlebte gleichsam repetieren. Bastian Kraft erzählt auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses Goethes Briefroman poesievoll und zeitlos.

von Reinhard Kriechbaum

Da verwandelt sich der vermeintliche Spiegel – neben einem Schreibtisch einziges Dekorationsstück dieser Aufführung – in eine durchsichtige Scheibe. Hinter dem Glas Lotte, die unerreichbare Angebetete. Sie tut eigentlich nichts, sie ist nur. Ein bodenlanges weißes Unterkleid trägt sie und ein weißes Mieder darüber. Eine pausbäckige junge blonde Dame, eigentlich ohne besondere Eigenschaften. Wenn sie Werther zuwinkt, dann freundschaftlich. Nicht mal schüchtern, aber ohne wirkliche Emotion meist. Wenn die beiden aufeinander zugehen, die Hände an den Spiegel legen, sind das von ihrer Seite zurückhaltende Gesten von Sympathie, nicht mehr. Und immer ist ja das Glas dazwischen, selbst in der hübschen (natürlich auch nur pantomimisch angedeuteten) Kanarienvogel-Szene.

Eine karge Inszenierung von Bastian Kraft? Ganz im Gegenteil. Das Spiegel-Offert von Bühnenbildner Peter Baur bietet viele poetische Möglichkeiten. Der Poesie arbeitet man mit ausgefeilter Technik zu: In der ersten Szene sitzt Werther an seinem Schreibtisch, auf der Glasplatte liegt transparentes Briefpapier. Von unten wird das mit Videokamera aufgenommen und wir können (auf dem Spiegelglas) Werther beim Schreiben beobachten. Seine Hände, sein Gesicht studieren, während er zugleich mit dem Rücken zu uns sitzt. Ein junger Mann, schon mit leichtem Haarausfall. Keine der Figuren ist pubertär, auch Albert nicht, der "brave Mensch", mit dem Lotte "so gut als verlobt" ist. Solche Liebe, die unmäßige Projektion aufrichtiger Gefühle aufs falsche – und nicht minder ehrliche – Gegenüber, kann eben immer passieren.

Albert ist logischerweise auch Spieler hinter dem Spiegelglas, ist drinnen, darf als Verlobter Lotte nahe sein. Draußen lebt Werther die Berg- und Talbahn seines stürmisch-drängerischen Überschwangs. Leon Ullrich braucht und nutzt viel Auslauf. Liebesfreud- und Liebesleid setzt er in Wegstrecke um: vor dem großen Spiegel, der auch Schreibfläche ist. Dort hält der nüchterne, beinah steife Albert Zahlenkolonnen fest, dort wird Werther bald ein kleines Porträt der Lotte zeichnen, aber später mit weißem Stift auch seinen Abschiedsbrief vom Leben schreiben.

Da hat sich die Perspektive bereits gedreht: Als Werther die vorweihnachtlich verordnete Besuchsabstinenz gebrochen hat und, von den Gefühlen überwältigt, hineingestürmt ist zu Lotte (es gibt ja doch eine Tür!), ist sie herausgeflohen. Von da ab steht Werther hinter dem Glas, ist er "Bild" derjenigen, die in den bürgerlichen Konventionen verharren...

Dichte anderthalb Stunden, die nicht nur dazu taugen, einem von nicht ganz so guten PISA-Werten angekränkelten jungen Publikum Goethes Briefroman nahe zu bringen. Es ist eine heutige Aufführung, die nicht modernistisch sein will, mit einer Musik, die illustrativ-dezent bleibt, auch wenn's kurzzeitig popig wird. Nichts da mit den klassischen Werther-Farben (blauer Frack, gelbe Weste), sondern dezentes Schwarz-Weiß in Kostümschnitten der Zeit.

Die Kurve zu E-Mail ("Gut gegen Nordwind"?) und Facebook nimmt man sowieso in Gedanken. Der Text ist gut eingekürzt. Evi Kehrstephan als Lotte ist eine schlichte, unaffektierte Stichwortgeberin, Gustav Koenigs Albert schaut pessimistisch, fast grimmig drein. Leon Ullrich geht als Werther mit der auch in anderthalb Stunden-Komprimierung ansehnlichen Textmenge konzentriert um, lässt uns seine Emotionen unmittelbar fühlen, hat aber die Affekte im Griff. Wer wollte diesem Werther verargen, dass er zwei-, dreimal einen Stuhl gegen die vermaledeite Spiegelwand werfen möchte! Keine Angst. Es kommt nicht dazu.

Aufführungen bis 29. März. - www.schauspielhaus-graz.com
Bilder: Bühnen Graz / Lupi Spuma

 

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