Mit Bewegungen eigene Geschichten erzählen

REST DER WELT / THEATER AN DER WIEN / WEIHNACHTSORATORIUM

23/12/14 Bereits 2007 hatte der Hamburger Ballettchef John Neumeier die ersten drei Teile von Bachs Weihnachtsoratorium für Wien choreographiert. 2013 folgten alle sechs in Hamburg (die ersten drei neu choreographiert), mit denen das Hamburger Ballett letzte Woche mit großem Erfolg im Theater an der Wien gastierte.

Von Oliver Schneider

Mit Bachs Choral „Vom Himmel hoch“ auf der Mundharmonika angespielt beginnt John Neumeiers Weihnachtsoratorium. Paare mit Koffern laufen über die Bühne, um das Gebot des Kaisers Augustus zu erfüllen: Sich schätzen zu lassen. An Weihnachten erinnert an diesem Abend ein Mann mit einem Bäumchen, für das er zunächst vorne links auf einem Podium über dem Orchestergraben ein Plätzchen findet.

Wenn dann der Arnold Schoenberg Chor das „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“ jubilierend aus dem Graben anstimmt und sich der schwarze Bühnenraum in einen weißen verwandelt (Ferdinand Wögerbauer), schmückt er sein Bäumchen zu einem Weihnachtsbäumchen. Dieser Mann (Lloyd Riggins) steht für diejenigen, die heute zwischen Punschständen, musikalische Dauerberieselung in Kaufhäusern und dem Festtagsbraten am Sinn von Weihnachten festhalten wollen. Sich gegen den reinen Konsum wehren. Sein Plätzchen machen ihm die Tänzerinnen und Tänzer des fantastischen Hamburger Balletts immer wieder streitig. Mal lässt man ihm das Podium, mal treibt man ihn auf die Bühne.

In den ersten drei Teilen fehlen die meisten weiteren Assoziationen zur Weihnachtsgeschichte. Statt Maria und Josef nennt Neumeier das Paar die Mutter und ihr Mann, was die Allgemeingültigkeit heraushebt. Das Engelpaar ist immerhin weiß gewandet. Aber gerade die Tatsache, dass Neumeier fast nie verdoppelt, sondern mit Bewegungen eigene Geschichten zusätzlich zur Musik erzählt, macht das „Ballett“ zu einem großen Ereignis. Hier erzählen Tänzer mit ihren Körpern von ihren Befindlichkeiten in außergewöhnlichen Situationen. Und mit was für einem unglaublich abwechslungsreichen Kanon an Bewegungen. Jede der 64 Nummern hat ihren eigenen Charakter, jeder Teil ist in sich geschlossen und passt doch ins gesamte Konzept.

Was besonders in Erinnerung bleibt, ist die Freude, welche die Frauen und Männer in den Chören – z. B. der Eröffnungschor des dritten Teils – austanzen können. Mit Sprüngen, mit Pirouetten und Drehungen, mit Schrittfolgen weit entfernt vom strengen klassischen Tanz, dafür mit einem solchen Ausdruck, dass man das Gefühl hat, alles entstehe spontan in jenem Moment.

Weniger abstrakt wird es, wenn die drei Weisen im vierten Teil anreisen. Bei Balthasar steht die Sonnenbrille für die in der Bibel erwähnte schwarze Hautfarbe. Es grenzt schon an Akrobatik, wenn die Weisen mit Plexiglasstühlen tanzen. Auch Herodes ist dank einer Pappkrone als solcher erkenntlich und versucht sich immer wieder im Tangotanzen. Aus dem hervorragenden Ensemble einzelne Tänzerinnen und Tänzer herauszuheben, ist schwierig. Und alle aufzuzählen, würde den Raum sprengen. Erwähnt sei deshalb nur Carsten Jung, Marias Mann, der dank eines gewissen Alters auch vermitteln kann, was ein Vater verspürt. Ebenso ausgezeichnet ist Anna Laudere als Mutter, die symbolisch für ihr Kind ein weißes, zusammengefaltetes Hemd in den Armen hält oder über ihm geneigt sitzt.

Effektvoller Höhepunkt des Abends ist wohl die Sopranarie Nr. 39 „Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen“ mit dem Echo des Alts, zu dem die beiden Engel und die Frau fast schon über die Bühne schweben, während nicht ganz synchron, eben einem Echo ähnlich hinter einem weißen Tuch am Bühnenende nochmals drei Menschen tanzen.

Musikalisch hätte man dem Gastspiel in Wien allerdings ein inspirierteres Dirigat als jenes von Erwin Ortner am Pult des Wiener Kammerorchesters gewünscht. Auch die Solisten ließen zu wünschen übrig. Lenneke Ruiten war bereits ein Salzburg als Donna Anna mit ihrem in der Höhe schnell an Grenzen stoßenden Sopran eine Enttäuschung. Andrew Tortise war sowohl als Evangelist als auch mit den Koloraturen in den Tenorarien überfordert. Ann Beth-Solvang bot mit ihrem Alt immerhin eine solide Leistung. Lichtblick war somit nur André Schuens sonorer Bariton. Den Fels in der Brandung bildete einmal mehr der Arnold Schoenberg Chor. Zum Glück.

Das Weihnachtsoratorium ist am 25., 27. und 29. Dezember in der Hamburgischen Staatsoper zu sehen - www.hamburgische-staatsoper.de 
John Neumeier und seine Kompagnie sind am 24. Mai 2015 bei den Salzburger Pfingstfestspielen wieder zu Gast mit dem Ballett Ein Sommernachtstraum - www.salzburgerfestspiele.at 
Bilder: Theater an der Wien/ Holger Badekow