Stopp running, Philipp

FESTIVAL PERFORMING NEW EUROPE / PHILIPP GEHMACHER / SEAD

16/01/12 Streiflichter. Mehr geht bei bestem Willen nicht - bei bis zu acht Aufführungen pro Festivaltag. Karaoke scheinen sie jedenfalls zu mögen, die performenden neuen Europäer. Diego Gil hat mit SEAD-Studenten das Format des You-Tube Karaoke entwickelt, Philipp Gehmacher die Zeit stehen lassen.

Von Heidemarie Klabacher

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Eine besonders interessante Erfahrung bescherte die Performance „in their name“ von Philipp Gehmacher. Das ist ja keine neue Produktion. Die Uraufführung beim Steirischen Herbst im Oktober 2010 hat man mit dem Gefühl verlassen, einem besonders infamen Zeitdiebstahl aufgesessen zu sein. Ob damals der Spielort - das architektonisch überaus reizvolle Mumuth in Graz - dem Stück übel mitgespielt hat? War dieses Ambiente zu glatt? Hat das archaische Gehmacher’sche Nicht-Bewegungs-Theater keinen Halt gefunden an den polierten Noten an der Wand im Ligeti-Saal? Vielleicht.

Die bis auf die roten Ziegel bloß gelegten Wände im Republic haben dem "Bühnenbild" von Vladimir Miller - Stangen, Planen, eine Lichtwand - jedenfalls Reibungswiderstand geboten. Vom ersten Moment  an hat sich eine spürbare Spannung aufgebaut, haben sich Beziehungen entwickelt: zwischen den drei Performern in Form von kleinen „Dialogen“ des sich einander Annäherns und Zurückweisens, des einander Beschwichtigen-, Berühren- oder Beschützen-Wollens. Aber auch der „Draht“ zwischen Darstellern und Publikum war vom ersten Augenblick an gespannt.

Aus den Fragmenten von Geschichten über Könige, Ritter und Männer, die auszogen bessere Männer zu werden, wurden plötzlich Erinnerungen wach an Geschichten, die man selber gelesen hat. Aber auch Geschichten eigenen Scheiterns an eigenen Ansprüchen. Aus dem gnadenlos grauslichbunten Schipullover, den Philipp Gehmacher irgendwann einmal anzieht (samt warmer Schiunterhose der Siebzigerjahre), wird plötzlich ein Symbol eigener Kindheit: Haben wir nicht alle genau solche Pullis anziehen müssen. Wahrscheinlich haben wir als Kinder auch nicht glücklicher in diesen „Selbergestrickten“ ausgeschaut, als Philipp Gehmacher. Er arbeitet das für uns auf, war ja "Nichts", schon gar nichts Schlimmes - und ist doch haften geblieben...

Es passiert auch „nichts“ in Gehmachers Performance. Die Tänzer/Darsteller bewegen sich wie schlecht gebastelte Marionetten durch den Raum, besonders die Arme scheinen ihnen anzuhangen wie abgestorben oder eben schlampig angeflickt. Das war am Freitag (13.1.) im Republic beim PNEU-Festival nicht weniger langatmig, als bei der Uraufführung beim Steirischen Herbst - aber doch plötzlich voll Spannung. Der rein körperlich „handfeste“ Philipp Gehmacher, die überirdisch zarte An Kaler und der elegante Rémy Héritier erzählen allein schon mit ihren so unterschiedlichen Körpern und den jeweils daraus resultierenden unterschiedlichen Bewegungs-Energien „Geschichten“. Alles sehr verfeinert, sehr subtil - ja schon, langatmig auch - aber voll Poesie und Tiefe.

altThemenwechsel. Vier junge Leute sitzen auf ebenso vielen Sesseln und bewegen zunächst vor allem den Mund. Sie machen das echt gut, man könnte meinen, sie singen tatsächlich selber. Das geht ein paar Nummern so dahin. Die Musik wirkt für ältere Semester angestaubt, wie aus der Zeit der guten alten Fernsehshow. Aber auch was Rap-artiges ist dabei. Man bewegt Oberkörper und Arme nach einem sichtlich ausgeklügelten Muster im Sitzen. Mit der letzten Nummer kommt mehr Dynamik hinein, die Tänzer stehen gar auf, zwei Sessel werden umgeworfen.

Weitaus das Spannendste an der Produktion „Bsides“, die Diego Gil mit SEAD-Studenten entwickelt hat, war am Sonntag (15.1.) im Republic die bewegte „Licht-Skulptur“, die von oben auf die kleine Szene projiziert wird: Feine Lichtstreifen bilden sich rasch ändernde geometrische Muster auf dem Boden, huschen über die Körper der Sitzenden, wecken die Assoziation von „wandernden“ Fernsehbild. Noch so ein seltsam retro anmutender Rückgriff auf das Zeitalter des Röhrendbildschirms. Am Ende bildet die Projektion einen Lichtkreis, eine hauchfeine Lichtspriale. Eine Vinyl-Platte? Retro pur? Aber Vinyl kommt wieder...

Der serbisch-niederländische Dramaturg, Lehrer und Tanzforscher Igor Dobricic war von anderem Format - eine andere Generation. Er hat von einem leise gesungenen Lied ausgehend eine beeindruckende Crescendo-Studie hingelegt, bei der sich Musik und Bewegung beinah unmerklich intensivieren und steigern. Zudem schien es ein Streifzug durch die Geschichte des tänzerischen Bewegungsrepertoires der Gegenwart zu sein. Spannend.

Wie geht es weiter mit dem PNEU-Festival? Michael Stolhofer, der scheidende Szene-Intendant, übernimmt die organisatorische Leitung des Europäischen Performer-Netzwerkes apap, in dessen Rahmen PNEU entstanden ist. "Wie das Netzwerk künftig bei der Szene Salzburg präsentiert wird", so Stolhofer, "ist allein Sache der neuen Intendantin Angela Glechner."

Eva Würdinger