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Kunst, Verschwendung und Gerechtigkeit

IM WORTLAUT / FESTSPIELE / ERÖFFNUNGSREDE

27/07/12 Der Schweizer Germanist und Autor Peter von Matt, 1937 in Luzern geboren, hielt am Freitag (27.7.) Vormittag in der Felsenreitschule die Festrede zur Eröffnung der Festspiele. Zu seinen bekanntesten literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen gehören die Bücher über den Liebesverrat, über verkommene Söhne und missratene Töchter sowie über die Intrige. Kunst als (notwendige) Verschwendung – das war sein Thema in Salzburg.

Von Peter von Matt

altDie Kunst erleuchtet die Welt. Aber sie tut es auf zwielichtige Weise. Sicher ist, dass sie uns in der Begegnung hinreißt und die Zeit vergessen lässt. Wir denken klar und fühlen stark, und noch nach Jahren erinnern wir uns an jene Momente, die uns den Atem verschlagen haben. Von einem Roman haben wir vielleicht fast alles vergessen, die Dramenhandlung ist nur noch ein unbestimmter Wirrwarr, die Oper ein ferner Klang, das Museum ein graues Labyrinth, aber der Augenblick, in dem Fürst Myschkin im Petersburger Salon die Vase zerschlägt, der Augenblick, in dem der König Lear mit der toten Cordelia im Arm erscheint, der Augenblick, in dem sich Donna Anna im Don Giovanni ihrem Bräutigam entzieht, der Augenblick, da wir in Madrid vor Goyas letzte Bilder traten, diese Augenblicke stehen immer noch so bedrängend vor uns wie die Sekunden einer erlebten Todesgefahr.

Vielleicht haben wir sogar die Erkenntnis vergessen, die uns damals plötzlich erfasst hat, aber dass da ein Licht war, welches aufflammte bis zum Horizont, das wissen wir noch und spüren es unter den Rippen. Von dieser Erinnerung lassen wir nie. Sie sagt uns: Es wird wieder geschehen. Und erneut werden wir dastehen, und die Kunst wird die Welt erleuchten.

Und doch tut sie es auf zwielichtige Weise. Hat sie sich denn nicht immer den Mächtigen angedient? Hat sie ihnen nicht die goldenen Throne gefertigt und die Gemächer verziert, hat sie den Kaisern nicht die schimmernden Paläste, den Päpsten die ungeheuren Kirchen gebaut? Hat sie nicht immer die Reichen beglückt und den Armen die Stehplätze überlassen? Ungezählte Werke von betäubender Schönheit sind nur entstanden, um prahlerischen Herrschern die Illusion ihrer Unsterblichkeit zu verschaffen.

Heute hat die Finanzindustrie die aristokratischen Höfe abgelöst. Man legt sein Geld in Öl, Uran und Warhols an. Das Pastellbild „Der Schrei“ von Edward Munch, eine etwas melodramatische Arbeit, beliebt vor allem bei Pubertierenden, wurde kürzlich für 120 Millionen Dollar verkauft. Der Jubel war groß, denn nun konnte man hoffen, dass auch die Pollocks, die Richters und die Lichtensteins, die man als Anlage angeschafft hatte, wieder zulegen würden.

Erleuchtet die Kunst auch die Welt, wenn sie zur Absicherung gegen den röchelnden Euro in einem Banksafe liegt? Und wenn die Blase platzt, zu der sich der Kunstmarkt in den letzten Jahren aufgepumpt hat, wie steht dann die Kunst selber da? Als eine Prostituierte jener „Märkte“, von denen niemand genau weiß, wer sie sind, obwohl sie ganzen Ländern das Wasser an den Hals steigen lassen?

Aber die Künstler, sagt man, die sind ganz anders. Man darf ihnen nicht die Geldgeber zum Vorwurf machen. Die Künstler sind reine Seelen. Hilflos gegenüber dem Treiben der Welt, leben sie einzig ihrem Werk und opfern sich dafür auf. Schon aus der Antike, vom griechischen Autor Strabo, ist der Satz überliefert: „Der kann kein guter Dichter sein, der nicht ein guter Mensch ist.“ Shakespeares Freund und Kollege Ben Jonson wiederholte diese Aussage fast wörtlich im Vorwort zu seiner Komödie Volpone, und Friedrich Schiller legte den gleichen Gedanken seiner Kritik an Gottfried August Bürger zugrunde, mit welcher Kritik er den armen, genialen, vom Unglück gebeutelten Kollegen öffentlich hinrichtete. Schiller merkte nicht, dass er mit dieser üblen Aktion seine eigene These widerlegte.

Aber auch im 20. Jahrhundert taucht die Behauptung immer wieder auf. So schreibt Paul Celan einmal in einem Brief: „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte.“ Es wäre in der Tat beruhigend, wenn man aus der ästhetischen Qualität eines Werks auf die moralische Qualität seines Schöpfers schließen könnte. Doch leider ist das eine sentimentale Legende. Gerade weil sie alles Menschliche mit grimmigen Griffen erfassen, ist den Künstlern selbst nichts Menschliches fremd, und die großen Seelen können auch kleinliche Zänker sein, eifersüchtig wie die Elstern. Die Liste der hässlichen Gefechte ist lang: Bramante gegen Michelangelo, Salieri gegen Mozart, die Romantiker gegen Schiller, Goethe gegen die Romantiker, Börne gegen Goethe, Heine gegen Platen, Wagner gegen Meyerbeer, Hebbel gegen Stifter, Karl Kraus gegen Hofmannsthal, Kafka gegen Else Lasker-Schüler, Thomas Mann gegen Heinrich Mann, Brecht gegen Thomas Mann, Dürrenmatt gegen Frisch – von den Lebenden wollen wir hier einmal schweigen.

Das 19. Jahrhundert hat dieses Dilemma dramatisch gesteigert. Einerseits hat es die Künstler zu Heiligen stilisiert und Beethovens bekränzte Totenmaske an alle Salonwände gehängt, andererseits hat es die Schöpferkraft der Künstler dem Stachel verbrecherischer Antriebe, wüster Wünsche und geistiger Störungen zugeschrieben. Genie und Irrsinn hieß damals ein jahrzehntelanger wissenschaftlicher Bestseller. Noch Gottfried Benn stellte lange Listen zusammen mit Dichtern und Musikern, die Säufer waren, und in Thomas Manns Tod in Venedig erscheint die Kunst als eine schimmernde Blüte, die aus giftigen Sümpfen steigt.

Das sind nicht Kuriositäten aus vergangener Zeit, das verweist auf Probleme, die auch die unsrigen sind. Auch wir verbinden das geschaffene Werk sehr rasch mit der Beschaffenheit seines Schöpfers. Oft brechen die Verkaufszahlen eines bedeutenden Autors ein, wenn eine Biographie erscheint, aus der hervorgeht, wie schlecht er seine Frau behandelt hat. Niemand aber zieht den Umkehrschluss und sagt: „Dieser Mann muss ein Genie sein, er ist immer so nett zu seiner Frau.“

Doch was mache ich da? Nörgle ich bei einem Anlass, der dieKünste feiert, an den Künstlerinnen und Künstlern herum? Der Nörgler ist zwar eine ehrwürdige Figur der österreichischen Literatur, von Grillparzer über Karl Kraus bis zu Thomas Bernhard, und auch Elfriede Jelinek dürfen wir mit allem Respekt dazuzählen, aber das kann ja keine Vorgabe sein für Festreden. Was mich umtreibt, ist die Tatsache, dass wir der Kunst nie ganz gewachsen sind. Sie erleuchtet die Welt, aber auf zwielichtige Weise, und dies nicht nur aus den erwähnten Gründen. Der tiefere Skandal liegt darin, dass die Kunst Verschwendung ist. Zum physischen Überleben brauchen wir sie nicht. Da steckt der Stachel. Die Kunst tritt immer hinzu. Schon Jakob Burckhardt hat sie vom Überschuss her bestimmt, einem Überschuss im Prozess der Arbeit: Der prähistorische Töpfer formt ein Gefäß, und am Ende prägt er ihm mit einer Schnur ein Ornament ein, rundherum, zierlich und überflüssig – der erste Künstler.

Was der Mensch zum Überleben braucht, sind Brot und Früchte und sauberes Wasser, und tatsächlich leben auf dieser Erde Abertausende, denen Brot und Früchte, denen insbesondere das saubere Wasser fehlt. Das einzige, was nirgendwo zu fehlen scheint, sind die Kalaschnikows.

Darf es denn überhaupt Kunst geben, den Überfluss schlechthin, solange es Menschen gibt, denen es an Brot und Früchten und sauberem Wasser fehlt? Steht die Kunst also in einem fundamentalen Widerspruch zur Gerechtigkeit?

Die Frage ist alt, und es gibt auch alte Antworten darauf, aber die Antworten sind so schwierig wie die Frage selbst. Eine Antwort steht im Neuen Testament. Da tritt eine Frau zu Jesus und salbt ihm die Füße mit teurem Öl. 300 Denare hat der Krug gekostet, und überdies lebt die Frau von der käuflichen Liebe. Die Apostel protestieren: Wie vielen Armen hätte man helfen können mit dem, was die Hure hier verschwendet hat! Darauf sagt Jesus den Satz, der uns nicht weiterhilft: „Arme werdet ihr immer unter euch haben, mich aber werdet ihr nicht immer unter euch haben.“

Wenn ich mich an meine frommen Jahre erinnere, dann wurde darüber nur selten gepredigt. Die Theologen kennen sicher eine beruhigende Erklärung für die schwierige Stelle, für uns aber, hier und jetzt, ist nur das eine wichtig: dass da ein Akt der Verschwendung mit schroffer Entschiedenheit gerechtfertigt wird. Wie immer man die Begründung deuten mag, die Lust am Überfluss wird in dieser Szene aus dem zwingenden Bezug zur Ungerechtigkeit gelöst. Exemplarisch.

Und tatsächlich ist es so, dass in allen Kulturen die Verschwendung weit mehr ist als ein zynischer Luxus der Besitzenden oder ein Einschüchterungsritual der Herrschenden. Sie ist ein Glücksfaktor für alle.

Denn auf der Verschwendung, dem kurzfristigen Genuss von Überfluss, beruht das Fest. Und ohne Feste kann keine Gemeinschaft leben, keine Familie und kein Dorf, keine Stadt und kein

Land, kein Lebensalter und keine Berufsgruppe – wer weiß, ob nicht sogar die Ameisen ihre nächtlichen Orgien feiern. Fleißig genug wären sie ja. Denn der Gegensatz zum Fest ist nicht die Armut und das Elend, sondern die Arbeit. Aus der Arbeit, der täglichen Mühe, dem Ächzen an Werkbänken und Pulten, auf Traktoren und vor Bildschirmen, entspringt der Traum von den ganz anderen Tagen, welche reines Fest sind, Tanz und Feier, Karneval, gemeinsames Genießen und eben Verschwendung, Verschleuderung sogar in breiten Würfen. Wer dagegen antritt, tritt an gegen die menschliche Natur.

Die Kunst und das Fest treffen sich also im Akt der Verschwendung. Wie es keine organisierte Gesellschaft gibt ohne Fest, gibt es auch keine organisierte Gesellschaft ohne Kunst. Kunst und Fest sind nicht identisch, aber in ihrem Wesen verwandt. Wer das Fest erforscht, stößt auf Dinge, die auch für die Kunst gelten und umgekehrt. Daher kann man vom einen auf das andere schließen.

Sigmund Freud hat das Fest bestimmt als die zeitweise Aufhebung des Verbotenen. Was sonst nicht gestattet ist, darf jetzt sein – in zeitlichen Grenzen, die oft auf die Sekunde genau gesetzt sind und streng überwacht werden. Wenn das stimmt, dann muss auch die Kunst an dieser Dynamik von Verbot und Willkür ihren Anteil haben. Gerade die zwielichtige Weise, in der die Kunst die Welt erleuchtet, erscheint dabei als ein unabdingbares Element. Das sieht man am deutlichsten an der Verschwendung.

Insofern als die Kunst Verschwendung ist, hebt sie die Gebote der Askese auf, sei es im bürgerlichen oder im religiösen Sinn. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass die Künstler die Regeln der Ökonomie oft maßlos missachten und gegen den obersten Grundsatz der wirtschaftlichen Vernunft verstoßen, wonach der Wert eines Produkts von der dafür aufgewendeten Arbeitszeit abhängt. Da schreibt einer zwei Jahre an einem Roman, dann

verbrennt er das Manuskript, beginnt von vorn, verbrennt es wieder und schreibt schließlich etwas ganz anderes. Drei Jahre Arbeitszeit sind verschleudert. Ein anderer bringt überhaupt nie einen Roman zu Ende; er hinterlässt nur drei Bruchstücke, das eine heißt „Der Process“, das zweite „Das Schloss“, das dritte „Der Verschollene“, und überdies befiehlt er, dass sie nach seinem Tod vernichtet werden müssen. Welche Verschwendung von Lebenszeit! Doch das Gebot wird missachtet, und die drei Zeugnisse des Scheiterns zählen plötzlich zu den vollkommensten Kunstwerken ihres Jahrhunderts.

Auch diese Normverstöße hängen zusammen mit dem Festcharakter der Kunst, nicht weniger als die Tatsache, dass in allen Diktaturen die Künstler, die ihren eigenen Weg verfolgen, grundsätzlich verdächtig sind. Selbst den Bildersturm, die Vernichtung von Kunst allein deshalb, weil sie Kunst ist, gibt es ja heute noch und sogar wieder vermehrt. Das hängt direkt zusammen mit dem gesetzlosen Kern der Kunst.

Die Verwandtschaft der Kunst mit dem Fest macht deutlich, dass ihre innerste Mitte, die uns bald zwielichtig erscheint und bald abgründig, bald unerschöpflich und bald rätselhaft, ein Ereignis der Freiheit ist. Es speist sich aus einem Raum der aufgehobenen Verbote. Diese Freiheit jenseits der Gesetze pulsiert im Kunstwerk wie die Sexualität im Menschenleib. Sie ist, wie diese, immer uralt und brandneu, ein Ärgernis und ein Jubel, verstörend und – um mit dem schwierigsten Wort zu enden – schön.

Bild: Land Salzburg / Neumayr / MMV
Zum Bericht über den Eröffnungsfestakt Ein "europäisches Stück"

 

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