Sommernachtstraum mit berittenen Elfen

FESTSPIELE / GEWANDHAUSORCHESTER / CHAILLY (2)

02/09/13 Riccardo Chailly vereint Energie mit Charisma. Er setzt Ideen um, die einen mitunter sprachlos machen. Beethovens „Neunte“ am Sonntag (1.9.) Vormittag war also alles andere als ein finaler Festspielball mit anderen Mitteln. Eine Deutung von hoher Eigenständigkeit und mit eloquenter Brillanz.

Von Reinhard Kriechbaum

001Man kam unwillkürlich ins Nachdenken übers Pensionsalter von Dirigenten. Die meisten an den Festspielpulten sind ja doch schon deutlich über 65. Da empfindet man einen Sechziger wie Riccardo Chailly fast als Jungspund. Dirigieren hat eben auch ganz viel mit Energie zu tun. Wie Chailly die Fäden nicht nur in der Hand hält, sondern auch dran zieht, nötigt Respekt ab, nicht weniger als die gestalterische Eigenständigkeit dieser Interpretation.

Hat man den zweiten Satz der „Neunten“ eigentlich schon mal so Mendelssohn-nahe erlebt? Wie Chailly die Geigen seines Gewandhausorchesters dahinhuschen lässt, erinnert unwillkürlich an diverse Elfenreigen. Puck im deutschen Eichenwald? In der Lesart von Chailly und dem Gewandhausorchester ist da jedenfalls unglaublich viel Hinterlist und Finte, die Instrumente scheinen Haken zu schlagen. Vielleicht sind die Elfen ja beritten. Niemals malmt das Forte, der Ton ist delikat und locker bis zur allerletzten Pointe, der gleichsam unbeantwortet stehen gelassenen „halben“ Oboenmelodie.

Das war alles gut vor- und nachbereitet. Im ersten Satz etwa mit einem mehr stichelnden als gerissenen Auftaktmotiv der Geigen in die Quintklänge des Beginns hinein, der sich alsbald ins Wirbelige wendete. Nur an der Oberfläche ruhevoll sind die Bläser-Inseln, immer kitzelt Riccardo Chailly mit Raffinement Stimmen heraus, in denen der Rhythmus pulsiert und ein wenig umtriebiger (gar nicht zwingend „un poco maestoso“) umgeht, als man es im Ohr hat.

Ganz wundersam, wie viel „abseitige“ Bewegung Chailly in diesem Sinn auch im langsamen Satz aufdeckt: Da sind immer wieder unprätentiöse, aber nachhaltige „Neben-Erzählungen“. Was haben doch die Ersten Geigen gegen Satzende zu berichten, wenn die Holzbläser und Hörner die weiten Melodien zu einem Ende spinnen – aber eben die Geigen darauf insistieren, dass noch keineswegs alles gesagt ist…

Ganz folgerichtig war der Finalsatz weit weg von allem pathetischen Festklang. In mysteriösem Pianissimo, mit mehr als zurückhaltenden Sforzati stellen Celli und Bässe nach den rezitativischen Motivreminiszenzen das Hauptthema vor: Überraschung wieder: was dazu gleich darauf das Solo-Fagott zu sagen, ja keck zu schwatzen hat! Eher Mozart’sche Opern-Eloquenz denn Forte-Wucht in den Beiträgen des Solistenquartetts, dem René Pape ein deklamationsstarkes, geradezu zierliches Fundament zu geben wusste. Fein darüber tariert die Stimmen von Luba Orgonásova, Gerhild Romberger und Roberto Saccà. Bestens präpariert von Johannes Prinz natürlich auch der Wiener Singverein.

Eine kleine Salzburg-Episode: Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester haben sich vor gut einem Vierteljahrhundert eben hier, bei den Festspielen kennen gelernt. Herbert von Karajan hatte damals Riccardo Chailly, damals ein Mittdreißiger, eingeladen, ein Konzert mit dem geschichtsreichsten „bürgerlichen“ Orchester in Deutschland zu dirigieren. Seit 2005 ist Chailly Gewandhauskapellmeister.

Bild: Gewandhaus / Gerd Mothes