Die deutsche Kleinstaaterei, über die Georg Büchner sich in „Leonce und Lena“ quasi nebenher lustig macht, war den globalen Optionen der Partnersuche jedenfalls zuträglich. Der ganz außerordentliche Werteverlust, bedingt durch Langeweile und sich äußernd in gekünsteltem Zeitvertreib (was für ein entlarvendes Wort!), ist ein wichtiger Aspekt in Büchners Lustspiel.
Man kann es Decadence nennen, wenn ein junger Mensch wie Prinz Leonce kein Ziel vor Augen hat, keinen Lebensplan erkennt. Ein Einkaufszentrum an einem Samstag zur Mittagsstunde wäre ein geeigneter Ort, an dem sich die beiden frustrierten Königskinder mit dem Hang zur Formulierung von Sehnsuchtspoesien heutzutage über den Weg laufen könnten.
Genau das passiert aber nicht in den Kammerspielen. Die Jungregisseurin Caroline Ghanipour und ihr Ausstatter Peter Engel haben die Bühne frei geräumt. Silberschimmernde Wände führen perspektivisch nach hinten, die niedrige Rückwand, drehbar, lässt dahinter Grünzeug erkennen – das verlorene Paradies?
Caroline Ghanipour hat Szenen unauffällig umgruppiert, ein paar Nebenrollen rausgekürzt, serviert uns den Text sonst quasi buchstabengenau. Und eben weil dieser Text so vielschichtig ist und Büchner mit seiner Boshaftigkeit auf politischer wie menschlicher Ebene aneckt, gibt sie auf diese Weise keine spezielle Interpretation vor. Sie delegiert an die Zuseherinnen und Zuseher, das sie jeweils Ansprechende heraus zu hören. Da hocht man irgendwie auf, ob eines so „altmodischen“ Verständnisses einer jungen Theaterfrau: Ist es nicht schon fast Dogma, klassische Theaterstücke drastisch umzubiegen und dem Publikum eindeutige Denkrichtungen aufzuzwingen?
Nehmen wir diese „Leonce und Lena“-Aufführung also als ein willkommenes Angebot zum Selberdenken. Nur Lesen ist noch anregender. Humor und Witz kommen in der Aufführung auf ihre Rechnung, und wenn man mit Tempo ein wenig an der Poesie-Gloriole von „Leonce und Lena“ kratzt, schadet es nicht. Dass Nestroy auch im Vormärz groß geworden ist, fällt einem angesichts mancher Wortspiele ein. Die serviert vor allem Valerio (Sascha Oskar Weis) in alerter Zuspitzung.
Die Schauspieler dürfen pralle Figuren zeichnen. Fast könnte einem König Peter vom Reiche Popo (Walter Sachers) leid tun, wenn er in Unterhose daherkommt und versichert: „Ich muss denken.“ Er wird sich staatsmännisch gut weiterentwickeln im Lauf der knappen anderthalb Stunden. Wenn er vorführt, dass er wild entschlossen ist, sich aller Widerwärtigkeit monarchischer Kleinstheit zum Trotz zu amusieren, wird das zum Kabinettstück.Axel Meinhardt als Staatsdiener wirkt in seiner Unbestimmtheit als Jasager gefährlich. Ein Mann ohne Eigenschaften.
Clemens Ansorg hat als Leonce einen herablassend-fadisierten Blick drauf. An seiner Überheblickeit muss Rosetta (Elisa Afie Agblagah), die auf einem Plattenteller zu tanzen angehalten ist, zwangsläufig scheitern.
Eine glückliche Zukunft wird man auch Prinzession Lena (Julienne Pfeil) nicht prognostizieren dürfen. Sie wird, wenn der Liebes-Irrtum aufgeklärt und Leonce als Partner festgeschrieben ist, alles andere als beglückt dreinschauen: der Kontrapunkt zum pseudo-fröhlichen Finale. Nikola Rudle als Gouvernante durchschaut das bitterböse Lustspiel noch genauer und sitzt nachgerade fassungslos da.