Fremder Freund, hier ist kein Grund zum Trauern

FESTSPIELE / WAR REQUIEM

19/07/21 Kann man nach Auschwitz Gedichte schreiben? Für die Engländer und den Komponisten Benjamin Britten stellte sich die Frage ähnlich: Nachdem neben der Kriegsruine der gotischen Kathedrale von Coventry eine neue Architektur entstanden war und zur Weihe anstand – kann man da noch zur Kirchweihe ein Requiem schreiben?

Von Reinhard Kriechbaum

Ein Requiem, in dem eben nicht nur der Dies irae-Gedanke ausgemalt wird. In dessen Text – derselbe in der anglikanischen wie in der katholischen Kirche – wird ja nach eben diesem heftig ausgemalten „Tag des Zorns“ quasi ein Schalter umgelegt. Der Wegweiser wird theologisch jäh umgestellt auf Erlösung und Einzug ins „Himmlische Jerusalem“. Ein solcher war schwer vorstellbar, auch zwei Jahrzehnte, nachdem Hitlers Luftwaffe in einer beispiellosen Nacht-und-Bomben-Aktion am 14. November 1940 die Industriestadt Coventry so gut wie dem Erdboden gleichgemacht hatte.

An Benjamin Britten war der Kompositionsauftrag für die Musik zur Weihe der neuen Kirche gegangen. Und er löste das auf wahrhaft humanistische Art. Er baute in den Requiemstext einen Liedzyklus von Gedichten des im Ersten Weltkrieg blutjung gefallenen Wilfried Owen ein. Flammende Anklagen an die Grausamkeit, die Unmenschlichkeit, den Wahnwitz eines Kriegs. Der vom Menschen unmenschlich konterkarierte Friede steht also im inhaltlichen Spannungsfeld zur utopischen religiösen Zielvorstellung.

Kaum einmal hat sich ein Künstler eines im Grunde hochnotpeinlichen „Staatsauftrags“ so intellektuell raffiniert, so elegant entzogen und einen Geniestreich geliefert. In diesem Sinne drängte sich das War Requiem auf zur Eröffnung der Ouverture spirituelle der Festspiele und ihrem Motto Pax. Und hätte das City of Birmingham Symphony Orchestra kommen können wie geplant (ging Corona-technisch nicht), dann wäre das quasi eine Aufführung im Originalton geworden, denn dieses Ensemble trug 1962 die Uraufführung des War Requiem.

So musizierten am Sonntag (18.7.) in der Felsenreitschule unter der Leitung von Mirga Gražinytė-Tyla das Gustav Mahler Jugendorchester, eine Abordnung vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Wiener Singverein und der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor. Eine Besonderheit der Uraufführung blieb auch diesmal erhalten. Benjamin Britten hatte den Tenorpart Peter Pears zugedacht und das Baritonsolo Dietrich Fischer-Dieskau. Also die einstigen Kriegsnationen in der Musik vereinigt. Dazu hätte Britten an eine russische Sopranistin gedacht (was dann im Kalten Krieg nicht machbar war), denn die Russen hatten die meisten Kriegstoten zu beklagen.

Die Festspiele haben diese Sänger-Konstellation nun umgesetzt, mit dem Tenor Allan Clayton, dessen helles Timbre und geradezu idealtypische Wort-Bezogenheit ihn wie ein Abbild von Peter Pears erscheinen ließen. Dazu Florian Boesch, der seinem Kollegen in puncto Deklamations-Genauigkeit in nichts nachstand. Und schließlich die Russin Elena Stikhina.

Benjamin Brittens Musik ist nicht nur klang-sinnlich, sondern auch durchsichtigund formal klar. Steckte da nicht so viel emotionaler Anspruch dahinter, drängte sich gar das Wort elegant auf. Es war also ein legitimer Ansatz für Mirga Gražinytė-Tyla, dieses feine Lineament im Melodischen konsequent herauszuarbeiten, auch und gerade im Dies irae. Es waren in dieser Interpretation also die lyrischen, die trostreichen Botschaften die nachhaltigeren: „Fremder Freund, hier ist kein Grund zum Trauern“, singt ja der Tenor im Libera-Finale, und diese Worte richtet er gerade an „den Feind, den du getötet hast“.

Eine Aufführung mithin, in der die emotionalen Gegensätze zwar nicht nivelliert, aber wohl überlegt ausbalanciert wurden, und das galt nicht zuletzt für die Anteile der Chorgruppen. Ohne jede intonatorische Trübung aus dem Off der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Leitung Wolfgang Götz), und mit viel Sinn für das spezifisch Britten'sche Vokalchroma der ganz wunderbar homogene Wiener Singverein (Johannes Prinz). Zum Auftakt der Ouverture spirituelle also eine nicht nur repräsentative Aufführung, sondern eine mit Modellcharakter.

Rundfunkübertragung am 6. August um 19.30 Uhr in Ö1
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli