Frage nach den Tabus unserer Zeit

HINTERGRUND / REIGEN

27/07/22 Nach der Uraufführung 1920 in Berlin landeten Theaterdirektor, Regisseur und das Schauspielerteam wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor Gericht – und wurden bemerkenswerterweise freigesprochen. Aber sogar noch 1967 wurde Roger Vadim, Regisseur der Reigen-Verfilmung La Ronde in Italien gerichtlich belangt.

Von Reinhard Kriechbaum

Der Reigen entstand 1896/97, es dauerte also bis zur (offiziellen) Uraufführung fast ein Vierteljahrhundert und führte selbst damals zu einem respektablen Theaterskandal. Schnitzler selbst belegte das Stück mit einem Aufführungsbann belegte, der erst 1982 wieder aufgehoben wurde. Als Otto Schenk den Reigen in den 1970er verfilmte (mit einer Starbesetzung von Senta Berger und Maria Schneider bis Helmut Berger), war dieses Paradestück der österreichischen Literatur des Fin de siècle noch gar nicht wieder freigegeben fürs Theater.

Eine Dirne schnappt sich einen Soldaten und verliert ihn an ein Stubenmädchen. Der junge Herr erprobt an dem Stubenmädchen die Methoden, mit denen er in Kürze eine junge Ehefrau umwirbt. Deren Ehegatte amüsiert sich inzwischen mit einem süßen Mädel in einem Separee. Das süße Mädel wirft sich einem Dichter an die Brust, der's seinerseits auf eine Schauspielerin abgesehen hat, die von einem Grafen umworben wird. Der Graf schließlich landet nach einer verbummelten Nacht im Bett der Dirne, womit der Reigen geschlossen, das Liebes-Querfeldein wieder am Ausgangspunkt gelandet ist. In Schnitzlers Stück treffen prototypische Figuren der Wiener Gesellschaft in einem Kaleidoskop der Liebesweisen aufeinander, das quer durch Klassen, Geschlechter und Alter diejenigen im Geheimen verbindet, die in der öffentlich legitimierten Ordnung einer Gesellschaft nicht zusammenfinden können, beschreibt die Dramaturgin Laura Paetau.

Die Festspiele setzen nun auf eine Paraphrase. Zehn europäische Autorinnen und Autoren erhielten Aufträge, die zehn Dialoge des Originals neu zu fassen, neu zu denken: Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss. Yana Ross, eine in Lettland geborene, in Amerika tätige Regisseurin, wird diesen neuen Reigen am Donnerstag (28.7.) in der Szene aus der Taufe heben. Eine spannende Frage: Gibt es zum Reigen, mit dem Schnitzler eine Gesellschaft der sozialen Unausgeglichenheit und Ungerechtigkeit porträtiert hat, heutige Entsprechungen?

Yana Ross beschreibt den Entstehungsprozess, der sich pandemiebedingt über einen deutlich längeren Zeitraum erstreckte als geplant. Ursprünglich sei die Fertigstellung für 2021 geplant gewesen. Vieles habe sich währenddessen radikal verändert. Die Herausforderung bestehe darin, der neuen Realität mit einem neuen Schreiben zu begegnen. „Das ist gleichzeitig das Geschenk und die große Verantwortung dieses Projekts“, erklärt Yana Ross.

Darin, zehn unterschiedliche Szenen tatsächlich in einen „Reigen“ zu bringen, sieht Yana Ross ihre Aufgabe: „An der Herausforderung hat sich nichts geändert. Ich als Regisseurin muss einen Blick auf das große Ganze finden, zehn Autorinnen und Autoren miteinander verbinden, die einen Zeitpunkt im Hier und Jetzt beschreiben.“ Mit ihnen sei sie während der vergangenen zwei Jahre beständig in Verbindung gestanden. Tabus, die vor hundert Jahren bestanden, hätten sich verlagert. Mit Punkten freigelassene Textstellen, die in Schnitzlers Text den sexuellen Akt markiert haben, gebe es von Seiten der Autoren diesmal nicht. Aber es gibt nach wie vor Tabus. Dazu gehöre beispielsweise, „abliefern zu müssen, die Angst vor Einsamkeit und davor das eigene Gesicht zu zeigen, sich immer wieder zu fragen: Bin ich gut genug?“  Die „Themen, über die wir als Gesellschaft nicht sprechen“ kämen also letztlich der Originalfassung Schnitzlers nahe.

Bleibt die dramaturgische Form von Schnitzlers Reigen gewahrt? Ihr sei von Beginn an klar gewesen, dass wir aus der heutigen Zeit auf das Stück blicken müssen. Schnitzlers Konzept eines „Karussells“ werde hier für verschieden Konstellationen geöffnet, in denen auch mal drei oder mal fünf Personen miteinander tanzen. „Für mich war es wichtig, den Aspekt der Bewegung aus Schnitzlers Reigen beizubehalten“, betont Yana Ross. In gewisser Weise sei das Stück ein Puzzle für das Publikum – eine Einladung an die Zuschauer, sich ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Und auch ein Autor erzählt nun eine andere Geschichte als vor zwei Jahren geplant. Die neue, völligg unerwartete Lebenssituation des russischen Autors Mikhail Durnenkov (er ist jüngst aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nach Finnland emigriert) habe diesen bewogen, seine Szene aktuell umzuschreiben, berichtet die Regisseurin. Besonders freut Yana Ross, dass ihr eine ukrainische Hospitantin erklärt habe, sie empfinde diese Szene als für sie wichtigste.

Yana Ross ist bekannt dafür, dass sie radikal Stoffe, die heute als Klassiker gelten, überschreibt. Das reicht von Tschechows Gesellschaftspanoramen Drei Schwestern und Die Möwe, Ibsens Nora deben bis zu Arthur Schnitzlers Reigen. Sie schäle „den den Kern des Bürgerlichen heraus und zeige gleichzeitig die überraschende Gegenwärtigkeit der Texte, indem sie sie direkt an die Sprachen und Rituale der spezifischen Gesellschaft anbindet, für die sie inszeniert“, heißt es über sie auf der Website des Zürcher Schauspielhauses.

Uraufführung am 28. Juli, weitere Vorstellungen am 31. Juli, 3., 5., 6., 8., 9. und 11. August – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Ömer Karakus (1); Lucie Jansch (3)