Das doppelt hohe Lied der Liebe

FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / SALONEN

27/08/22 Wie weggewischt die düstere Erfahrung, die aus dem noch im KZ Görlitz uraufgeführten Quatuor pour la fin du Temps spricht. Nach Kriegsende war für Olivier Messiaen ein über-lebensfroher Aufbruch angesagt. Dieser  schlug sich mit Urkraft nieder in der Turangalîla-Symphonie.

Von Reinhard Kriechbaum

Ein typisches Musikgeschichte-Werk, sprich: Wie toll es ist, kann man in Büchern nachlesen, aber der Aufwand, es tatsächlich im Konzertsaal zu spielen, ist enorm. Entsprechend selten begegnet man der Turangalîla-Symphonie. Im letzten Konzert-Paar der Wiener Philharmoniker in diesem Festspielsommer (am 26. und 28.8.) hat sie das Publikum zu Jubelstürmen hingerissen.

Wenige Tage zuvor hatte Igor Levit eine Klavier-Transkription des Tristan-Vorspiels fugenlos „hinüberkippen“ lassen ins Liszts h-Moll-Sonate. Nun Vorspiel und Isoldes Liebestod in philharmonischem Bestklang, und dann ging's mit jähem Krachen direkt hinein in die Messiaen'sche Welt der elementaren Liebe – genau das auf menschlicher und göttlicher Bedeutungsebene meint das Sanskrit-Wort Turangalîla. Mystiker war Messiaen ja schon als Vierzigjähriger, aber – wie man nun wieder bestätigt bekam – damals noch ein Sanguiniker. Aus diesen Tönen könnte man nicht entfernt heraushören, wie bald dann aus dem Großmeister ein Akusto-Ornitologe und Dreifaltigkeits-Anbeter mit Tendenz zur Selbst-Verdenkmalung werden sollte (zugegeben, der Schreiber dieser Zeilen zählt absolut nicht zu den Messiaen-Aposteln).

Aber eben dieses weit aufgeschlagene Buch ohne Siegel, dieses spontan-wirkkräftige, zehnsätzige Hohelied der Liebe: Da sind alle Bestandteile Messian'scher Form- und Tonsprache voll entwickelt und werden – pardon für die dem Komponisten vermutlich ganz fremde Gender-Ungerechtigkeit – mit viriler Kraft auf Spieler und Hörer losgelassen.

Esa-Pekka Salonen hat dieses scheinbar unendliche Wechselspiel aus elementaren Ausbrüchen und feierlichen Hymnen, aus schier unhaltbar hervorbrechenden motorischen Schüben und jenen betörenden Tristan-Anklängen, wie sie gerade die Wiener Philharmoniker so einprägsam bezwingend herausbringen, mit großer Übersicht und Schlagkraft im Wortsinn gebändigt. Aus dem pauschal Großen die kompositionstechnische Feinmotorik und Feinmechanik herauszuschälen, das ist dem Dirigenten gar wundersam gelungen.

Kein Überdruck auf die Trommelfelle, sondern beständige Ohren-Reizung, Herausforderung zu differenziertem Ein-Hören. Es sind ja, jenseits aller Wucht, wie sie sich über dem Hörer gelegentlich entlädt, sagenhaft viele Instrumentations-Finessen aufzuspüren. Man muss nach diesen knapp achtzig Minuten den Liebesgesang an die Wiener Philharmoniker weiterreichen. Sie haben in allen Instrumentengruppen die Fähigkeit, die sanften Choräle mit Weichheit und mit Spannung zugleich zu erfüllen (so wie sie das bei Wagner ja auch tun). Das klingt dann, schon im ersten Chant d'amour tatsächlich wie eine Tristan-Reminiszenz, auch wenn sie immer wieder durch geradezu circensische Betriebsamkeit unterbrochen wird. Und erst der Jardin du sommeil d'amour. In diesem Liebesschlummergarten entfalten die Streicher unendliche Ruhe (ohne dass die Musik auf der Stelle träte), und dazu liefern das Soloklavier, die Stabspiele und der Triangel gar irisierende Tupfer.

Womit wir bei den beiden Damen wären, die ganz starke Akzente gesetzt haben: Yuja Wang spielte jenen solistisch herausfordernden Klavierpart, den Messiaen seiner späteren Ehefrau Yvonne Loriod zugedacht hatte: Natürlich oft spritzig, motorisch, glasklar und im Wortsinn schlagkräftig, aber auch mit reflexstarken leisen, klang-weichen Reaktionen aufs Orchester. Auch im Üppigen ist, wie man hörte, Kammermusik möglich.

Die zweite starke Frau dieser Aufführung: Cécile Lartigau an den Ondes Martenot, diesem eigenartigen Zwitter aus dem Magnetwellen-Zauberding Theremin und elektronischer Orgel aus den späten 1920er Jahren, das in der Turangalîla-Symphonie fast andauernd eingesetzt ist. Die pfeifenden Glissandi, die leichten Schleifer zu den Streichern, das starke Dagegenhalten gegen die Klangmassen: Auch da Ohrenreiz zur Genüge. Wer's aus der Ferne nicht so genau sehen konnte: Die rechte Hand drückt die Tasten oder fährt (für die Glissandi) mit einem Fingerring einen Draht über der Klaviatur entlang. Die linke Hand regelt Lautstärke und Klangfarben.

Ein bisserl Musikgeschichte muss da sein: In der Uraufführung mit dem Boston Symphony Orchestra 1949 spielten Yvonne Loriod Klavier und Ginette Martenot, Schwester des Instrumenten-Erfinders Maurice Martenot. Und am Pult stand Leonard Bernstein. Der ist einem in der rhythmisch elastischen Interpretation durch Esa-Pekka Salonen immer wieder eingefallen, nicht nur im jazzelnden fünften Satz mit dem poetischen Titel Joie du sang des étoiles. Das Finale, überschäumend angepackt durch den Dirigenten, wirkte gerade so, als ob Messiaen sich mit Bernstein demnächst an ein Musical à la West Side Story machte. Die wurde aber erst acht Jahre nach der Turangalîla-Symphonie uraufgeführt.

Wiederholung des Konzerts am Sonntag (28.8.) um 11 Uhr im Großen Festspielhaus – Hörfunkübertragung am 13. September um 19.30 Uhr in Ö1
Bilder: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli