Brecht-Improvisation auf Switzer-Dütsch

FESTSPIELE / DER KAUKASISCHE KREIDEKREIS

09/08/23 Sie sind legendär. Helgard Haug inszeniert Der kaukasische Kreidekreis von Bertolt Brecht: Die „Fassung“ hat die Regisseurin zusammen mit der integrativen Theatergruppe HORA aus Zürich erarbeitet. Eine Sensation, denn die Brecht-Erben sind penibel. Den Darstellerinnen wird der Text ’in-ear‘ zugeflüstert. „Auch die Hürde des Schweizerdeutschen war teilweise zu überwinden.“

Das Theater HORA besteht seit dreißig Jahren. Es geht auf eine Initiative von Eltern zurück, „die ihren kognitiv beeinträchtigten Kindern statt der Arbeit in Werkstätten eine Form von kreativer Arbeit zu ermöglichen“ wollten. Entstanden sei ein Ensemble von Menschen, „die täglich zu ihrer Arbeit in ein Theaterlabor gehen, in dem sie mit unterschiedlichen künstlerischen Handschriften in Berührung kommen“, so Helgard Haug. Angesiedelt ist HORA in Zürich. Die Theaterstück dort entstünden auf „einem sehr professionellen Niveau, in Kooperation mit diversen Festivals und Theatern europaweit“. Theaterpädagogen vermitteln zwischen HORA und dem jeweiligen Partner. Das ist auch bei der Festspielproduktion so. „Und dann gibt es eine ganze Reihe von Leuten, die ich aus meinem Team mitgebracht habe, wie Barbara Morgenstern als Komponistin, Marc Jungreithmeier als Video- und Lichtdesigner, Laura Knüsel als Bühnenbildnerin oder Minhye Ko, die als Perkussionistin auch eine Rolle auf der Bühne spielt“, erzählt Helgard Haug.

Die Zusammenarbeit mit nicht schauspielerisch ausgebildeten „Experten des Alltags“ erinnere an ihren eigenen Weg, so Haug, der sie, trotz des Studiums der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, zuerst in die freie Szene geführt habe. Ihr Weg mit dem von ihr mitbegründeten Kollektiv Rimini Protokoll, greife nicht nur auf klassisch dramatisches Theater zurück, sondern beruhe auf unterschiedlichsten Formaten wie installativen szenischen Arbeiten, Bühnenstücken, Interventionen, Hörspielen oder immersiven Projekten: „Immer mit dem Anspruch, die ’Vierte Wand‘ einzureißen.“ Die Arbeit mit dem Theater HORA sei insofern eher ein Bruch, als sie etwa die Mitglieder des Theater HORA nicht selber ausgesucht habe. Man habe „einen langen Anlauf“ von einem Dreivierteljahr genommen. Man habe gemeinsam Workshops besucht, aber auch technisch hinterfragt, „wie der Spagat zwischen einer gewissen Werktreue gegenüber Brecht und einer unverbogenen Performance durch die Schauspielerinnen“ bewältigt werden könne. Auch die „Grenze vom Persönlichen zum Privaten“ hätte „an gewissen Punkten“ überschritten werden müssen: „Den Prozess des Memorierens und Übens wollten wir den Darstellerinnen ersparen, um ihren kreativen Qualitäten nicht im Weg zu stehen.“

Barbara Morgenstern habe ein Arrangement für die Perkussionsinstrumente geschaffen. Die Überlegung war: „Wie können wir die Musik in die szenischen Abläufe integrieren und wie kann man die Darsteller mit einbeziehen? Die Musik wurde Hand in Hand mit der Erarbeitung der Hauptstruktur entworfen.“
Brecht hatte ja ein legendär schwieriges Verhältnis zu Salzburg und war auch sonst kein Einfacher: „Brecht war für mich als Regisseurin eigentlich immer etwas, von dem klar war, dass ich es nie machen werde – allein schon wegen der vielen Auflagen seitens des Verlags und der Nachkommen“, so Haug. Ihr erster Gedanke: „Das ist nicht machbar! Die Komponenten Brecht, Rimini Protokoll und Theater HORA schließen einander aus.“ Möglich geworden sei das Projekt letztendlich durch die Lockerungen, denen der Verlag und die Erben zugestimmt hätten. „Das musste ich erst sicherstellen, um eigene dramaturgische Wege gehen zu können, die wichtig sind, um an Tabuthemen rühren zu können.“
Haug schreibt das Stück fort: „Wir setzten am Ende bei der Gerichtsszene an, die danach fragt, welches die richtige Mutter ist, die leibliche oder die soziale Mutter.“ Brecht gebe darauf eine klare Antwort, „auch vor dem Hintergrund der Gegensätze zwischen Kapitalismus und Kommunismus“. Das werde zunächst an nachvollzogen, dann aber werde gefragt: „Welche anderen Personen kommen für die Mutterrolle noch in Frage?“ Diese Frage werde an das Kind übergeben, an das „Kind als Subjekt, das sich selbst entscheidet. „Auf diese Weise erzählen wir die Probe insgesamt acht Mal und schauen immer wieder, was dabei zu veränderten Bedingungen herauskommt.“

Was eigentlich vor der ersten Probe, oder nach Vertragsunterzeichnung, klar sein sollte, wird thematisiert werden: „Verschiedene Schauspielerinnen haben sich ihre Rollen ausgesucht. Und wir erzählen im Stück, wie es zu diesen Rollenbesetzungen kam.“ Es gebe weniger Textprojektion, als bei oft üblich, es werde „auf verschiedenen, auch technischen und visuellen Ebenen gearbeitet“. Ein Schauspieler werde beispielsweise via Bildschirm live zugeschaltet, da er für die Reise nach Salzburg physisch nicht belastbar genug sei. Die Theaterregisseurin betont immerhin: „Ein sehr wichtiges Element besteht für mich darin, dass ein Großteil des Brecht-Texts rhythmisch präzise gesprochen wird.“ Auswendiglernen geht halt in dem Falle wirklich nicht. „Um das zu erreichen, wird den Darstellerinnen der Text zunächst ’in-ear‘ zugeflüstert.“ Es sei ein langer Weg gewesen: „Wir haben früh damit angefangen und dabei Fragestellungen ausgelotet wie: Wie fühlt sich das an? Kann ich dabei die Aufmerksamkeit für meine Mitspieler auf der Bühne wahren? Auch die Hürde des Schweizerdeutschen war teilweise zu überwinden.“

Parallel zur Inszenierung entsteht auch eine Hörspielfassung, die zeitgleich mit der Premiere im Radio gesendet wird: „Das geschieht sonst in großem Abstand zur Theateraufführung – entweder davor oder danach. Hier passiert es aber gleichzeitig, wir haben schon in Zürich Texte eingesprochen und die Musik aufgenommen, das schneiden wir nun alles für das Hörspiel zusammen.“ (SF / dpk-klaba)

Bilder: SF / Jan Friese