FESTSPIELE / À PIERRE / AIMARD
23/08/25 Ein Testprogramm für die Pierre-Frage: Verstand und Gefühl, Widerspruch und/oder Bedingung? Pierre-Laurent Aimard exekutierte sie im ersten seiner beiden Konzerte am Freitag (22.8.) an Boulez, Debussy, Ravel und Messiaen im Großen Saal des Mozarteums.
Von Erhard Petzel
Die Programmzusammenstellung war diesmal besonders kongruent, es ging um die grundlegende Frage zu Technik und Wirkung von Musik. Nicht nur, dass alle Stücke, so sie nicht ohnehin vom Jubilar Boulez stammen, einen engen Bezug zu ihm aufwiesen. Themen waren das Verhältnis von Freiheit in der Form und Gebundenheit in Material und dessen technischer Verarbeitung – und dazu der Anspruch auf Musik, die zu hören auch Lust bereitet.
Da treffen Boulez’ Douze Notations für Klavier gleich einmal den rechten Nerv. Konstruiert aus einer Zwölftonreihe weisen die zwölf Sätze jeweils zwölf Takte auf. Jedes Mal ist die Reihe um einen Ton verschoben. Durch den sehr unterschiedlichen Charakter entstehen Stücke unterschiedlicher Dauer und genehmer Abwechslung. Der angenehm poetische Charakter findet in Pierre-Laurent Aimard den rechten Vermittler. Freundlich führt er von der Linie in die Akkorde der Fantasque, trillert über das Gewurle in Très vif, füllt das Arioso in Assez lent polyphon auf, schleudert die Einwürfe auf das Ostinato von Rhythmique und so in bunter Farbigkeit den Rest der Sätze durch. Die Konstruiertheit serieller Musik löst sich hier in Wohlgefallen auf, bis zum ausschwingenden Schlussklang nach wilden Clustern.
Das Dutzend bleibt Richtgröße für die dreißig Jahre zuvor entstandene Douze Études von Claude Debussy aus 1915. Boulez hat sie gerne selbst gespielt, stehen doch auch hinter diesem Zyklus strukturelle Gesichtspunkte. Verschiedene Intervalle sind erst die Kernidee, dann unterschiedliche Spielweisen. Aimard knöpft sich die Nummern III, VII, X und XI vor. In Pour les quartes jagen Quartenparallelen zu Gegenstimmen. Pour les degrés chromatiques entzücken durch chromatischen Hummelflug mit Kontrapunkten. Elegisches Melos und Tänzerisches trennen das Schwirren der Grundbewegung. Die beiden Sätze aus dem zweiten Heft erinnern an Chopins Regentropfen-Prelude oder eine Rhapsodie von Liszt im typisch farbigen Gewand des eleganten Franzosen.
Dergleichen versagt sich Boulez in seiner Ersten Sonate für Klavier. Die beiden Sätze sind strukturell an ihre Reihenfunktion gebunden, die auch die agogische Differenzierung beeinflusst. So ist der Abschnitt „Lent“ in ständiger Bewegung mit scharfer Expositur von Spitzentönen, während es in „Assez large“ zu einem irrwitzigen Gejage kommt. Boulez steht nach der Pause nochmals im Zentrum mit Incises von 2001, drei Jahrzehnte nach den zuvor gehörten Klavierwerken komponiert für einen Wettbewerb.
Davor aber drei Sätze aus Miroirs von Maurice Ravel, der älteste Beitrag des Abends (1904/05). Auch hier das Spiel mit dem Verstand für emotionale Wirkung. Ein punktierter Doppelton dominiert in Noctuelles, wird mit einer perlenden Girlande umspielt, bäumt sich zu Sekundschritten auf und setzt sich gegen flirrende Bewegungen durch bis zum finalen Auslaufen. Wenn sich im Folgesatz das Schwirren trauriger Vögel als Programm anbietet, bleiben im Grunde die musikalischen Parameter relativ konstant trotz der charakterlichen Farbgebungen und kontrastierenden Gestaltungsideen.
Einen starken Eigenakzent bringt schließlich Olivier Messiaen ein, Vorbild für und Lehrer von boulez. Quatre Études de rhytme von 1949/50 weisen serielle Techniken auf. Hat die Eröffnung einen durchaus rhapsodischen Grundzug, gilt Mode de valeurs et d’intensités als Schlüsselwerk seiner Zeit. Fixierte Tonhöhen sind in Länge, Lautstärke und Anschlag seriell definiert. Trotz dieser Struktur kann man einfach ein zerrissenes Duett mit gedehnt eingeworfener Basslinie hören, was einem eher intuitiven Zugang gleich käme. Die Neumes rhytmiques eigneten sich gar als schräge und ausdrucksstarke Filmmusik.
Nachdem sich der letzte Satz als ein gewalttätiges Heischen nach Effekten, toben die Zuhörer schier vor Begeisterung wie in einer Arena. Nach dieser Schwerarbeit in höchster Konzentration und geistiger Anspannung natürlich keine Zugabe, Aimard hatte an dem Abend schließlich noch viel Bach vor.
Solistenkonzert und Nachkonzert Aimard wurden vom ORF aufgezeichnet und werden am 25. September bzw. am 18. September jeweils um 19.30 Uhr auf Ö1 gesendet.
Bild. SF / Marco Borrelli
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