Venus von Willendorf

STICH-WORT

28/02/22 Wo kommt die Venus von Willendorf her? Den Stein, aus dem sie besteht, gibt's nämlich weit und breit nicht dort, wo sie 1908 gefunden wurde. Höchstwahrscheinlich kommt sie aus der Gardasee-Region. Aber auch in der Ostukraine, wo jetzt erbittert Krieg geführt wird, könnte unsere Venus weibliche Verwandte haben.

Von Reinhard Kriechbaum

Dort, wo im Jahr 1908 bei einer Grabung des Naturhistorischen Museums in der Wachau die Venus von Willendorf gefunden wurde, steht jetzt ein Denkmal: die Venus in der Fülle ihrer Rundungen in Menschengröße. Das ist weit übertrieben, das Original nämlich findet in einer Handfläche Platz. Die 11 Zentimeter kleine Statuette, eines der bedeutendsten Artefakte der Menschheitsgeschichte, zeigt eine gesichtslose, erwachsene Frau mit ausgeprägten Brüsten, breiten Hüften sowie einer kunstvollen Frisur oder Kopfbedeckung. Vermutlich war sie ein Symbol für Fruchtbarkeit, aber da gibt es unterschiedliche Theorien. Eindeutig aber ist das Material: Die Statuette besteht aus Oolith, einem sehr speziellen Kalkstein, der rund um Willendorf nicht vorkommt.

Ein Forschungsteam aus Anthropologen, Geologen und einer Prähistorikerin fand nun mit Hilfe hochauflösender tomographischer Aufnahmen heraus, dass die Venus von Willendorf wohl einen weiten Weg hinter sich hatte. Zumindest der Stein, aus dem sie gehauen wurde.

Oolith setzt sich aus winzigen Kalkkügelchen zusammen, die im flachen Wasser tropischer Meere entstehen. Wie kam man in der Wachau zu diesem Gestein? Bisher hat man höchstens leicht an der Oberfläche der Dame gekratzt, nun aber ist man es mit tomographischer Hilfe scheibchenweise angegangen. Studienleiter Gerhard Weber hat höchstauflösende Aufnahmen gemacht, vergleichbar mit Schnitten, wie man sie sonst im Mikroskop betrachtet. Die Struktur des Steins erwies sich als aussagekräftig.

Geologen suchten Europa nach Oolith-Lagerstätten ab und besorgten Vergleichsproben, von Frankreich bis in die Ukraine, von Deutschland bis Sizilien. „Durch die unterschiedliche Größe der Kalkkügelchen und den unterschiedlichen Anteil an Fossilien ist jeder Stein einzigartig“, so der Geologe Alexander Lukeneder. Das Ergebnis: Der Stein kommt wohl aus der Gegend nahe dem Gardasee im Trentino. Die Venus (oder ihr Rohmaterial) ist also über die Alpen und noch ein gutes Stück nach Osten gereist.

„Man muss sich das so vorstellen, dass die Leute günstige Standorte gesucht und bewohnt haben. Wenn sich das Klima oder die Beutetiersituation geändert haben, ist man weitergezogen, vorzugsweise entlang von Flüssen“, meint Gerhard Weber von der Universität Wien.

Hundertprozentig eindeutig ist die Herkunft aus dem Gardaseegebiet freilich nicht. Auch ein Gesteinsvorkommen in Isjum, im Südosten der Ukraine halten die Wissenschafter als Ursprungsort für möglich – nicht weit weg von den Regionen Donezk und Luhansk. Zwar passe die Zusammensetzung der ukrainische Oolithe nicht ganz so genau zu jener der Venus wie die italienischen Proben, jedoch gibt es in der Ukraine und in Russland Frauenfiguren, die der Venus von Willendorf erstaunlich ähnlich sind. Mögliche Verwandte unserer Venus sind im Bild links zu sehen. Funde aus der Ostslowakei in Niederösterreich legten urzeitliche Kontakte zwischen der Wachau und dem Osten nahe. „In beiden Fällen weisen die Ergebnisse auf komplexe Kommunikationsnetzwerke der frühen modernen Menschen kurz vor dem Höhepunkt der letzten Eiszeit hin.“

Besonders spannend für die Wissenschafter war die Entdeckung von winzigen Muschelschalen in der Venus-Figur, die digital dreidimensional rekonstruiert werden konnten. Ein Vergleich mit den Fossiliensammlungen des Naturhistorischen Museums Wien ermöglichte es, die Muscheln zu bestimmen und damit das Alter des Ooliths einzugrenzen. Der Venus-Stein bildete sich vor etwa 150 Millionen Jahren, als noch Dinosaurier die Welt beherrschten. „Dass sich von der Ikone der Eiszeit ein Bogen zu tropischen Meeren des Erdmittelalters schlagen lässt, hat uns alle überrascht“, so Mathias Harzhauser, Leiter der Geologisch-Paläontologischen Abteilung am Naturhistorischen Museum Wien.

Ein englischspachiger Abstract der Studie online
Bilder: Naturhistorisches Museum Wien (2); Gerhard Weber (1); Marina Jekimenko (1)