Die Ausweitung der Jazz-Zone

JAZZFESTIVAL SAALFELDEN

22/08/21 Der Taxifahrer beklagt es, der Journalist erblickt es spätestens beim Betreten der zentralen Spielstätte: Das Jazzfestival Saalfelden hat schon einmal mehr Publikum gesehen. Man hat das Angebot an Spielstätten abermals erweitert – aber im Jahr eins nach Corona zugleich an zahlendem Publikum eingebüßt. Ein Raumgewinn, ja – aber nicht auch eine Selbst-Kannibalisierung?

Von Christoph Irrgeher

Statt dicht gefüllter Reihen heuer manch kahle Stelle im Congress Saalfelden, auch auf der Galerie nicht das übliche Getriebe. „Auch wenn wir heuer etwas weniger sind – ich glaube, es tut der guten Stimmung keinen Abbruch“, müht sich Intendant Mario Steidl am Freitag (20.8.) beim Start des Hauptbühnen-Programms um Beschwichtigung. Natürlich – die Corona-Krise nagt auch an Saalfelden. 2020 wurde der Konzertreigen erst abgesagt, dann dank sinkender Viruszahlen zumindest in verknappter Form abgehalten. Heuer ist zwar wieder ein volles Programm angesetzt, die Entscheidung dafür jedoch abermals spät gefallen. Erst im Juli hat der Kartenverkauf begonnen – ein knappes Zeitfenster, das dem Marketing im Verbund mit der allgemeinen Unsicherheit wohl nicht gerade dienlich war.

Denkbar allerdings, dass die Ausdünnung im Haupthaus noch einen Mitgrund hat. Nämlich den Expansionskurs, den die Intendanz seit Jahren verfolgt. Schritt für Schritt reichert sich das Festival mit neuen Spielorten in der Stadt an und setzt dabei nicht zuletzt auf Gratiskonzerte. Den Stadtpark hat diese Strategie heuer in ein Stadtfestareal verwandelt: Baumkuchen und Burger liegen in der Luft, während von der Bühne griffige Weltmusik dröhnt. Dabei wird heuer nicht nur die grüne Wiese zum Nulltarif beschallt, sondern auch ein abgelegenes Waldstück sowie ein industrieller Spielort im Zentrum, nämlich die pittoresk-abgewetzte Gruberhalle. Die ist am Freitag durchaus stattlich gefüllt, während sich das Quartett Vegeta mit Lokalmatador Lukas Kranzelbinder pulsierende Beats und ein saxofonistisches Sperrfeuer (Martin Zrost) entstößt. Ein Raumgewinn, ja – aber nicht auch eine Selbst-Kannibalisierung? Das wird sich wohl erst in klarem Licht zeigen, wenn die Corona-Wolken verschwunden sind.

Wie sich ein breites Feld an Klangsprachen klug verbinden lässt, zeigt jedenfalls der US-Amerikaner Craig Taborn. Was mit einem gehörigen Rabatz beginnt, entwickelt sich zum schillernden Kaleidoskop der Sounds. Taborn, Pianist und Keyboarder, hat nicht nur sein Trio ungewöhnlich besetzt (mit Tomeka Reid am Cello und Ches Smith an Vibraphon und Schlagzeug), er schmiedet auch stilistisch neuartige Koalitionen: Da werden wallende Klangwolken mit Synthie-Obertönen durchzogen, da wecken knackige Elektro-Beats Erinnerungen an Hip-Hop und werden alsbald von ziselierten Sololinien überwuchert: sinnliche Metamorphosen. Dass man als Genre-Pluralist auch weniger subtil vorgehen kann, ruft einem allerdings der Gitarrist Christian Kühn ins Gedächtnis: Er liefert mit seiner Kombo Kuhn Fu Vi vor allem einen Haufen an Stilzitaten. Surfrock trifft Schabernack trifft Freejazz trifft Faust trifft Auge. Ein Aberwitz, der seine Pointen hätte – wären sie nicht in den Festival-Vorjahren von ähnlichen Stilmixern verbraucht worden.

Nachgerade frisch wirkt daneben der Auftritt von Camae Ayewa, auch wenn die Afro-Amerikanerin mit dem Künstlernamen Moor Mother Goddess („maurische Muttergöttin“) und ihre Band Irreversible Entanglements an das Vermächtnis von John Coltrane in seiner ekstatisch-spirituellen Phase andocken: Das Quintett der aktivistischen Rapperin betätigt sich erst einmal in rituellem Trommeln, allmählich quäkt das Saxofon, röhrt die Trompete, nehmen Schlagzeug und Bass grimmig Fahrt auf: Eine Wutsturmmusik bricht los und bereitet die Bühne für die Mantra-haften Anklagen der Frontfrau. „Zu viele Waffen!“, sagt sie. „So viel Gewalt!“ Ein anderes Mal: „Was werden wir unseren Kindern sagen?“ Ayewas Zornespredigt, Abrechnung mit (postkolonialen) Widernissen und Anbahnung höherer Gerechtigkeit gleichermaßen, bezieht ihre Kraft vor allem aus einem brennheißen Klangbild.

Zwischen Wort und Klang pendelt auch Christian Reiner, heuer Artist in Residence und bei fünf Programmen federführend. Am Samstag (21.8.) entert der drahtige Deutsche die Hauptbühne unter dem Motto „Luft“ – ein treffendes Wort für die nicht sehr handfesten Ausführungen des Sprechkünstlers: Seine Erzählungen reißt er oft nur mit zwei, drei Sätzen an, dann lässt er die fünf Luftmusikanten rundum, sprich Bläser, textfrei weitertuten und mengt sich lautmalerisch ins Klangbild. Eine Konzertstunde der Brüche, eine Zeremonie des Zickzacks, rätselhaft, aber auch unverbindlich. Es ist der skurrilen Note dieser Hörbruchstücke zu verdanken, dass sie das Interesse doch eine Weile bannen.

Deutlich mehr Tiefenwirkung entfalten danach zwei US-Pianistinnen: Festival-Stammgast Sylvie Courvoisier trifft im Duo erstmals auf ihre Kollegin Kris Davis, und das Konzept der beiden reicht weit über die in Jazzer-Kreisen verbreitete Minimal-Absprache des „Na schau ma mal“ hinaus. Wolkig bis Cluster-stürmisch, konkretisiert sich die Musik immer wieder zu kantigen Unisono-Abschnitten; ausnotierte Grooves aus einem Niemandsland zwischen Gil Evans und György Ligeti setzen Magie frei. Fordernd? Ja, aber mit hinreichend Anhaltspunkten im Klanggeschehen. Eine Geschliffenheit, der Marc Ribot schlussendlich einen launigen Kontrapunkt entgegenstellt: Der Paradelinke mit dem unverwechselbaren Tonfall an der E-Gitarre – mal bluesig-breit, mal spleenig-fitzelig – lässt den Samstag mit seinem Trio Ceramic Dog unter der betont rockigen Mitwirkung von Bass und Schlagzeug ausklingen. Dabei feiert Ribot die Kraft der Ekstase ebenso wie seine jahrelang kultivierte Systemwut und mischt spröde Stücklein mit eingängigen, fast schon Lou-Reed-igen Songs: Jubel für die Ikone, die am heutigen Sonntag (22.8.)noch einmal im Abschlusskonzert zur Charakterklampfe greift.

DrehPunktKultur-Gastautor Christoph Irrgeher ist Kulturrredakteur der Wiener Zeitung – www.wienerzeitung.at
Bilder: JFS / Michael Geißler (3); Matthias Heschl (1)