Kein Rat hilft gegen ein schlechtes Pferd

BUCHBESPRECHUNG / TEWJE, DER MILCHMANN / ALEJCHEM / EIDHERR

21/06/16 „Ich bin zu gering! Womit verdiene ich mir so einen Ehrenhut, dass die ganze Welt plötzlich gewahr wird, dass es jenseits von Bojberik, nicht weit von Anatewka, einen Mann gibt, der da heißt Tewje, der Milchmann?“ Armin Eidherr hat den Roman von Scholem Alejchem aus dem Jiddischen übersetzt.

Von Heidemarie Klabacher

Da sind wir für einen Augenblick glücklich mit Tewje: Er hat auf Geschäftswegen durch den Wald zwei verirrte Damen aufgelesen und – nach viel Gebet, Beschwörung und Palaver – heim auf ihre Datscha kutschiert. Es waren zwei reiche Damen. Und Tewje ist, nicht zuletzt wegen seiner übergroßen Bescheidenheit in der Lohnforderung für seinen Fahrdienst, überreich belohnt worden. Nur weiß leider auch der Nicht-Schriftgelehrte seit den Tagen der Tante Jolesch: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.“ Das gilt besonders für ein Glück, das Tewje, den Milchmann heimsucht.

Man meint ja, sein Schicksal zu kennen - und kennt doch bestenfalls nur ein paar berühmte Nummern, „Wenn ich einmal reich wär“, aus dem Musical „Anatevka“, das mit dem Roman von Scholem Alejchem freilich nur den Helden und einzelne Motive gemeinsam hat.

Armin Eidherr hat mit seiner Übersetzung aus dem Jiddischen – es ist die erste vollständige deutsche Übersetzung – ein wundersames Werk erschlossen. Tewje, der Milchmann ist kein durchkonstruierter klassischer Roman, sondern ein Reigen eng mit einander verflochtener, dennoch eigenständiger „Erzählungen mit einem identischen ‚Helden’, die Scholem Alejchem in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren geschrieben hat“, schreibt Armin Eidherr im Nachwort. „Die ersten drei Kapitel führen ostjüdische Typen aus den Dörfern, Städteln und Städten vor“. Mit den Geschichten über fünf der sieben Töchter Tewjes, entstanden 1899 bis 1909, vergehen erzählte und historische Zeit quasi parallel.

Mit dem ebenso knappen wie informativen Nachwort, der noch viel knapperen editorischen Notiz zur Übersetzung und den gerade einmal 72 Anmerkungen und Begriffserklärungen, entfaltet Armin Eidherr Literatur und Geschichte des Ostjudentums. Erschlossen und anschaulich gemacht wird – quasi mit einigen wenigen Pinselstrichen - eine Welt, „die es tatsächlich nicht mehr gibt und die mancher Leserin und manchem Leser vielleicht nicht allzu vertraut ist“, wie Eidherr es behutsam formuliert: „Es ist dies die Welt des Ostjudentums mit seiner vielhundertjährigen Geschichte, vom Mittelalter bis zum zwanzigsten Jahrhundert, mit einer eigenen Kultur und einer eigenen Sprache, dem Jiddischen.“

Was für ein Buch! Was für ein schrulliger Kauz. Was für ein tragischer Held. Das Herz will einem brechen, wenn Tewje das Herz bricht, weil er meint, seine Tochter verstoßen zu müssen. Zum Tränen weinen. Zum Tränen lachen. Welche „Performance“, wenn Tewje, die „Achtzehn Segenssprüche“ beten will – und ihm just in diesem Augenblick das Pferd durchdreht und durchgeht: „Und gerade dann, wie zufleiß, wenn man Lust gehabt hätte, recht innig und aus ganzem Herzen zu beten, sodass einem vielleicht etwas von der Last auf der Seele genommen wird… Kurz und gut, ich renne so dem Wagen hinterdrein und spreche laut das Achtzehngebet, mit einer Melodie wie der Vorbeter in der Synagoge.“ Rennend beten oder betend rennen über Stock und Stein: Man spürt Kurzatmigkeit und Atemlosigkeit geradezu im Sprachduktus.

Wenn es ruhiger hergeht, gibt Tejwe sich als weiser Jude, als ein Schriftgelehrter von Format. Dass so manche seiner unzähligen locker eingestreuten Übersetzungen aus dem Hebräischen sprachspielerischer Unfug sind, muss man dem Übersetzer Armin Eidherr glauben. „Bei Euch, sage ich, geht, Gott sei Dank, alles einszweidrei, wie es im Talmud steht, sage ich: So ist der Mensch und so kracht er…“ Wie gerne wüsste man, ob das wirklich so im Talmud steht. Viele Wortspielereien und Verballhornungen verstehen sich aber von selbst – von Konfusius über Speck-Kohlant bis zum Brinillanten - und erschließen einen weiteren staunen machenden Blick, auf einen Sprachspieler von moderner Scharfzüngigkeit bei fast schon Jandel’scher sprachspielerischer Virtuosität.

Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Roman. Aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Manesse Verlag Zürich 2016. 276 Seiten, 25,70 Euro – Tewje, der Milchmann
Am 9. Juli liest Christian Berkel um 18 Uhr im Jüdischen Museum Berlin aus dem Tewje. Im Anschluss an die Lesung sprechen Tal Hever-Chybowski, Leiter des Paris Yiddish Center, und Armin Eidherr, Übersetzer des Buches, über die Bedeutung des Werkes.
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