asdf
 

Theater statt Traktoristenkarriere

LESEPROBE / ELEONORA HUMMEL / DIE WANDELBAREN

10/02/20 Traktorist will er werden und ein schönes Mädchen heiraten. Doch es kommt anders. Feine Leute engagieren Arnold quasi vom Feld der kasachischen Steppe weg, bei den besten Dozenten soll er die Schauspielkunst erlernen. Der Haken: Bühnensprache ist Deutsch, und er kann kein Wort. Eleonora Hummels "Die Wandelbaren" ist eine Liebeserklärung an alle, die die Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben ...

VON ELEONORA HUMMEL

Die Erntezeit war in vollem Gange, als die Kommission zu uns ins Dorf kam. Am Vorabend war ich schon vor Ende der Nachrichten eingeschlafen. Ich weiß nur noch, dass auf dem Bildschirm gerade ein Mähdrescher durch ein golden wogendes Feld tuckerte und die Ansagerin über herausragende Erträge landauf, landab berichtete.
Nach einem Arbeitstag im Freien war ich häufig müde, nickte oft bereits im Hellen weg. Im Steppensommer, wenn die Abende lang waren und meine Mutter um elf von der Spätschicht heimkam, goss sie die Blumen ohne Zuhilfenahme einer Taschenlampe. Während das Gartenwasser lief, setzte sie sich mit der Zeitung nach draußen und las im Übergang zwischen Tag und Nacht, bis die Mücken sie zurück ins Haus trieben.
Wer mit dem ersten Hahnenschrei aufsteht, muss mit den Hühnern ins Bett gehen, sagte Mutter. Alte Bauernregel!
Am nächsten Morgen stand der Weizen auf meinem Feld nicht weniger hoch. Seine vergoldeten Ähren schwankten leicht im Wind, fernsehreif. Ich war sechzehn, kein Schüler mehr und noch kein vollwertiger Arbeiter, mein einziger Untergebener war der Schäferhund. Auf dem Traktorsitz fühlte ich mich genauso sicher wie auf einem Fahrradsattel. Mit drei saß ich auf dem Schoß meines Vaters und machte „Brumm-Brumm“ wie ein echter Motor. Mit fünf kannte ich alle Getreidesorten und wusste, wann man sie erntet und wie man sie einbringt.
Das ist Bungerts Sohn, sagten die Leute anerkennend. Kaum dem Steckenpferd entwachsen, schon rüttelt er am Lenkrad. Der wird mal Traktorist!
Petuchow hatte mich in aller Herrgottsfrühe zum Feld bestellt, als vom Tau noch ein wenig Kühle ausging. Sein Mähdrescher stand verlassen da. Ich lief um die Maschine herum und rief seinen Namen, gerade so laut, dass eine naseweise Feldmaus wieder in ihrem Erdbau verschwand.
Die Kolchose hatte nicht genügend Traktoren, deshalb fuhr ich bei Petuchow als Praktikant mit. Der Meister hatte wohl verschlafen und würde bald schlecht gelaunt hier aufkreuzen.
Je höher die Sonne stieg, desto mehr füllte sich die aufgeheizte Luft mit dem Sirren und Summen von vielbeinigem Getier. Das Feld vor mir schien in alle Richtungen zu wachsen. Wo zum Henker blieb Petuchow? Ich wagte es nicht, mich zu entfernen, er könnte ja jeden Moment auftauchen. Ohne ihn durfte ich nicht anfangen. Es war sein Traktor, also blieb mir nur zu warten.
Die Mittagsglut wirkte zunehmend wie ein Schraubstock, der meine geistigen und körperlichen Regungen lähmte. Mithin ließ ich bald lieber die Fliegen auf meinem Gesicht landen, als die Hand zu heben, um sie zu verscheuchen. Allenfalls versuchte ich zu blinzeln oder den Kopf wegzudrehen, was meine geflügelten Besucher nicht im Geringsten störte.
Im Glauben, außer Petuchow würde sich niemand hierher verirren, machte ich es mir im Schatten der Maschine, verdeckt von Weizenhalmen, bequem. Alles Pflichtgefühl fiel sogleich von mir ab. Ein Käfer kitzelte auf seiner Wanderung meinen nackten Knöchel. Ich wackelte mit dem Fuß, um ihn abzuschütteln, natürlich vergeblich. Ach, dann soll er doch, dachte ich träge.
Es gab ja Wichtigeres.

Sie kamen in einer Staubwolke. Ich wusste sofort, das konnte nicht Petuchow sein.
Ich hörte, wie das Fahrzeug bremste. Eilends hob ich den zuvor zu diesem Zweck – also des Ertapptwerdens – bereitgelegten, öldurchtränkten Lappen auf und begann, meinen – also Petuchows – Traktor zu polieren. Mitten in der Bewegung, den Wischlappen noch malerisch auf dem Schutzblech drapiert, drehte ich mich um, als sei ich soeben durch Störenfriede aus einer hochwichtigen Tätigkeit gerissen worden.
Zwei Fremde bahnten sich den Weg durch den Weizen, ein Herr mit Notizblock, eine Frau mit Brille, Hochsteckfrisur, am Haaransatz umrandet von einem Schweißperlenkranz, und einer gefalteten Zeitung in der Hand, die sie als Fächer benutzte. An der Erscheinung der beiden erkannte ich augenblicklich, dass sie aus der Stadt kamen und vom Kühemelken oder Pferdeaufzäumen keinen Schimmer hatten. Pferde grasten, seit ich denken kann, unweit meines Fensters, ich konnte ihnen geradewegs auf das Heu mampfende Maul – oder die edle Rückseite – schauen. Als kleiner Junge träumte ich davon, ein Dschigit zu sein, einer der verwegenen Reiter, die seit der Wiege eins sind mit ihrem Pferd, wie es sich für Steppenbewohner gehört. Doch war aus mir bis heute kein Dschigit geworden, sondern nur ein Jungtraktorist.
Die Erkenntnis, dass die Ankömmlinge Stadtmenschen waren, dämpfte meinen natürlichen Respekt vor Autoritäten ein wenig.
„He Junge! Ja, du da!“
Der ölige Lappen stand mir zweifellos gut zu Gesicht. Ich hatte darauf geachtet, dass meine Hände und die Arbeitskleidung nicht frei von Schmutzflecken waren. Im Grunde konnte mir nichts passieren. Sollten sie auf der Suche nach dem Tunichtgut Petuchow sein, ließe sich ebenfalls schwerlich etwas finden, das man hätte mir vorwerfen können, war ich doch in jeder Hinsicht unschuldig …
„Bist du der Bungert Arnold?“
Nun hielt ich wachsam inne. Sie kannten meinen Namen! Aber woher?
„Ja, der bin ich. Keine Sorge, der Motor läuft gleich wieder. Überhitzt, braucht nur ’ne kurze Pause.“
Mein Traktor schien sie jedoch nicht zu interessieren.
„Genosse Schulz hat uns gesagt, dass wir dich hier finden. Wir suchen junge Leute mit Interesse für darstellendes Spiel.“
Ich musste recht blöd dreingeschaut haben, sogar nach dem Traktor habe ich mich umgedreht, als könne ausgerechnet der etwas Erhellendes zum Gespräch beitragen, oder als stünde jemand hinter mir, den diese Verirrten eigentlich meinten.
„Theater“, sagte die Frau, als erkläre sich damit alles.

Mit freundlicher Genehmigung des Müry Salzmann Verlages

Eleonora Hummel: Die Wandelbaren. Roman. Müry Salzmann, Salzburg, 2019. 464 Seiten, 24 Euro - www.muerysalzmann.at

 

DrehPunktKultur - Die Salzburger Kulturzeitung im Internet ©2014