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Belauscht in Wort und Blick

LESEPROBE / MIEZE MEDUSA / DU BIST DRAN

26/01/21 Als Rapperin und Spoken Word Performerin ist Mieze Medusa bekannt. In ihrem Roman Du bist dran begegnen einander ein Wiener Mädel mit Migrationshintergrund, ein Cyber Stalker und eine betagte Feministin. Du bist dran erscheint heute Dienstag (26.1.) im Residenz Verlag. - Hier eine Leseprobe.

Von Mieze Medusa

Als ich meine Mails öffne, erreicht mein Adrenalinpegel ein ähnlich hohes Level wie beim Bungeejumping. Herr Berger hat mir jede Menge Mails geschrieben. Das Letzte hat nur mehr Rufzeichen im Betreff, eins davor besteht nur aus einem einzigen Satz: "Jetzt rufen Sie schon zurück, Sie …!!!"
Ich rufe zurück.
Das Gespräch ist unerfreulich und laut. Alles, was mir vorgeworfen wird, stimmt. Herr Bergers Betrieb wurde gehackt. Die Daten sind weggesperrt. Eine Ransom Attack. Alle Daten auf den Firmenservern wurden verschlüsselt. Zugänglich werden sie erst dann wieder sein, wenn der

Hacker/Erpresser den Schlüssel dafür rausrückt. Wer immer den Exploit durchgeführt hat, hat Humor. Der Lockscreen zeigt mein Firmenlogo und zwei Zitate.
Eins ist von Immanuel Kant: Die Sinne betrügen nicht. Das Zweite sagt mir nichts, spricht mir aber aus der Seele: Sprecht leise! Haltet euch ZurÜck! Wir sind belauscht in Wort und Blick!
Das Internet ordnet das Zitat problemlos zu: Fidelio, der Gefangenenchor. Die Großschreibung von Z und U entspricht nicht dem Original. Ich nehme einen Laptop aus dem Regal. Bei kniffeligen Problemen verwende ich ihn als Sandbox. Ich fahre ihn hoch und verbinde mich mit den Firmenservern und mache eine lokale Spiegelung der verschlüsselten Daten. Ich will mir den ganzen Unsinn später genauer ansehen. Danach fahre ich mit dem Taxi zur Firma.

Herr Berger erwartet mich im Foyer. Er ist sehr rot im Gesicht und schwitzt stark. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Er starrt mich an, schließlich schüttelt er genervt den Kopf. Besser, ich sage so wenig wie möglich. "Wo kann ich meinen Laptop hinstellen? Haben Sie das Back-Up parat? Ich gehe davon aus, dass sie gestern eines gemacht haben …" Konsterniert bedeutet mir Herr Berger, dass ich ihm folgen soll. "Gehen wir in mein Büro."
In dem kleinen Raum wird die Luft sehr schnell sehr dick. Es ist Hochsommer und Herr Berger hat sich den ganzen Vormittag ziemlich aufgeregt. Sein Deo hat dem Druck nicht standgehalten. Leider riecht die Stadt vor dem Fenster auch nicht viel besser. Ich nehme die Festplatte mit dem letzten Back-Up in Empfang und stelle den Zustand vor dem Exploit wieder her. Herr Berger hat meine Ratschläge befolgt. Das Back-Up, das er zusätzlich zur automatischen Sicherung auf einer separaten Festplatte gespeichert hat, ist von gestern. Kaum Datenverlust also. Die Sicherheitslücke behebt das natürlich nicht. Aber wenn mich nicht alles tauscht, hat es der Hacker ohnehin auf mich abgesehen, nicht auf den Kunden. Das verschafft mir Zeit. Herr Berger verabschiedet sich mit einem Kopfschütteln.
"Ich habe von ihren unkonventionellen Methoden ja schon viel gehört. Das war ja der Grund für unsere Entscheidung, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, … aber eine selbstgebastelte Ransom-Attack?" Ich lächle unverbindlich. "Gut, sehr wirksam, keine Frage, ich für meinen Teil werde nie wieder vergessen, das Back-Up extern zu lagern, dennoch …" Ich antworte ausweichend.
Der Rest des Tages ist hektisch. Wer hat mich ins Visier genommen? Und warum? Wie tief ist die Penetration meines Systems? Kann ich es mir überhaupt leisten, dem Tagesgeschäft nachzugehen, oder gefährde ich damit die Integrität meiner Kunden? Jemand hat sich die Arbeit gemacht, die Daten meines

Auftragsgebers wegzusperren. Es gibt keine Lösegeldforderung, dafür verwendet der Exploit mein Logo. Warum? Per Ferndiagnose checke ich flüchtig die Systeme all meiner Kunden: alles unauffällig. Obwohl ich die Lücke nicht gefunden und geschlossen habe, wurde der Hack nicht wiederholt. Ich schicke ein dringendes Mail an alle Kunden. Betreff: "Updates und Backups!"
Dann denke ich nach.
Zu Kant fallt mir nichts ein. Die Sinne betrügen nicht. Ich fahre mit dem Mauszeiger ziellos über den Bildschirm. Nichts passiert. Bevor mir langweilig wird, schau ich mir lieber gleich den Quellcode an. Siehe da: Der älteste (und einfachste) Trick von allen. So alt, das ist nicht mal mehr retro. Im einfarbigen Hintergrund verbirgt sich ein pixelgroßer Link in der gleichen Farbe. Ich drucke drauf. Eine ganz einfache Webseite baut sich auf. Oben links ein Eingabefeld. Sprecht leise! Haltet euch ZurÜck! Wir sind belauscht in Wort und Blick!
Hm. Groß- und Kleinschreibung. Sonderzeichen. Umlaute … Eigentlich gar keine schlechte Phrase, als Merkhilfe für ein relativ sicheres Passwort. Ich tippe "Sl!HeZ!WsbiWuB!" in das Feld und drucke die Eingabetaste. Nichts passiert. Was wurde das Passwort verbessern? Eine Zahl. Mein Blick bleibt auf dem "ZurÜck" hängen. Warum ist das großgeschrieben? Ich mache aus dem z eine 2, nehme das großgeschriebene U einfach noch dazu und versuche mein Glück erneut.
Langsam baut sich das Bild auf. Ein Zimmer. Im Hintergrund scheint eine Tür zu sein. Das Bild ist nicht besonders scharf, die Farben stumpf, wie von einer Standard-Webcam. Mir kommt das alles bekannt vor. Ich lege den Kopf schief, entschließe mich, nicht zu winken. Der Mensch auf dem Bildschirm legt den Kopf schief und entschließt sich, nicht zu winken. Wie erstarrt sitze ich still, starre auf den Monitor. Dann springe ich auf. Der Bürosessel rollt nach hinten. Mit beiden Händen schlage ich auf die Tischplatte. Im Bildschirm sehe ich mein Spiegelbild. What the fuck! Ich gehe zur Stereoanlage und drehe die Musik lauter.
Dumm, dumm, deppert! Anfängerfehler! Wo ist denn das Cover von der Web-Cam hin? Hab ich darauf vergessen oder hat es jemand entfernt? In meinen Adern pulsiert eine Mischung aus Panik und Adrenalin. Ich muss sofort raus! Wie soll ich denn in der Wohnung bleiben, wenn mich jemand ins Visier nimmt wie mit einem Suchscheinwerfer. Ich ziehe meine bequemsten Schuhe an. Packe eine Flasche Wasser und meinen alten Walkman in einen Rucksack. Aufgeladene Ersatzakkus. Die Lieblingstapes.
Nach kurzem Zögern lege ich einen mehrkantigen Bleistift zu den Ersatzakkus. Eine analoge Rewind-Taste. Unnötig, eigentlich. Die kurzfristige Lagerung von Strom hat die Welt in der Zwischenzeit hinbekommen. Aber Denken ist auch Motorik. Die Handbewegung bringt mich zurück zu den Tagen, als mein Denken frisch und unverbraucht war. Sich unbekümmert hinwegsetzte über alles, was es noch nicht gelernt hatte. Die Sinne betrügen nicht. Sie sammeln Daten. Was wir aus den Daten auslesen, ist anfällig für Manipulationen. Wir gehen durch die Gegenwart mit verbundenen Augen. Ich lasse die Tür hinter mir zufallen und drucke auf Play. Joy Division. It’s getting faster, moving faster now, it’s getting out of hand.

Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages

Mieze Medusa: Du bist dran. Roman. Residenz Verlag, Wien 2021. 256 Seiten, 22 Euro - www.residenzverlag.com
Bild: Residenz Verlag / Claudia Rohrauer

 

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