Gebroken Wit

LESEPROBE / ROEMER / GEBROCHEN WEISS

15/09/23 Drei Frauen-Generationen der Familie Vanta unter einem Dach: Oma und  pflegende Enkelin. Alleinerziehende Mutter und demnächst verstoßene Tochter. Ehemalige Sklaven und Plantagen-Besitzerinnen ergeben die Hautfarbe „Gebrochen weiß“. Der neue Roman von Astrid H. Roemer gilt den Lebensthemen Heimat, Familie, Identität und postkoloniale Politik. – Hier eine Leseprobe.

Von Astrid H. Roemer

Unmittelbar nachdem Bruder Winston ihre Mutter weggeholt hatte aus dem Haus von Vater Anton, damit sie zu ihm zog und zu seinem zerbrochenen Eheleben, hatte sie Tochter Heli freundlich gebeten, gleich nach dem Untericht an der SKS vorbeizuschauen bei ihrem Großvater in der Jacobusrust. Ohne zu fragen, hatte ihre Tochter die Aufgabe akzeptiert, sie ohne zu klagen erledigt. Es war, als wüsste ihre Erstgeborene aus unerklärlichen Gründen genau, dass Großvater ein Mann war, dem das Wohlergehen seiner Kinder und Kindeskinder mehr am Herzen lag, als man annehmen würde. Sie wollte sich erkenntlich zeigen für seinen Schutz an dem Tag, als er seinen Sohn Winston fast zu Tode geprügelt hatte in dem Zimmer, in dem auch das Kinderbettchen stand von Heli, die weinte, und sie selbst, die der Szene halbnackt und schreckensstarr zusah. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Bruder über sie herfiel: Aber es war das erste Mal, dass jemand sie von ihm befreite. Vater Anton hatte seinen Sohn nicht nur blutig von ihr weggetreten, er hatte ihm auch die Tür gewiesen ein für alle Mal. Bei der Rückkehr vom Markt war das Einzige, was Mutter Bee von ihrem Mann erfuhr, das wirklich Wichtige: Ihr Sohn Winston dürfe, solange er, Anton, noch lebe als Vater, keinen Fuß mehr ins Elternhaus setzen! Monate später wurde Imker geboren. Sie sieht sie noch zusammen spielen auf der Terrasse ihres Elternhauses: Heli auf dem Dreirad und Imker, die hinter ihr herkrabbelt. Und sie ganz in der Nähe. Der Abstand zwischen ihren Eltern schien nach dem Vorfall nicht mehr zu überbrücken, und Mutter Bee war ihrer ältesten Tochter seitdem mehr oder weniger in Feindschaft verbunden. Schwierige Zeiten, auch weil der Mann, den sie wirklich liebte, bald auswandern sollte mit einer anderen jungen Frau und einem anderen kleinen Kind und – nicht einmal verabschiedet hatte er sich von seiner Tochter Heli und von ihr. Und sie weiß noch, wie sie ihren Blick über die Jacobusrust schweifen ließ und dachte: Wie um Himmels willen komme ich mit meinen Mädchen weg von hier? Inzwischen hatte sie die Briefe von ihrem Körper entfernt und auf den Wohnzimmertisch gelegt. Widerwillen hielt sie davon ab, den einen Umschlag zu öffnen. Erinnerungen wie plötzliche Regengüsse, gegen die sie sich nicht anders zur Wehr setzen konnte, als zu warten, bis wieder bessere Zeiten kamen. Erst Audi nach Hause. Danach Babs. Warten, bis sie zu dritt am Tisch saßen für die warme Mahlzeit aus braunen Bohnen mit Pökelfleisch, weißem Reis und reifen Kochbananen. Ein Lieblingsessen. Und statt ein Dankgebet zu sprechen, öffnete sie Helis Umschlag, faltete das Luftpostpapier auf und las ihren Brief laut vor. Es waren drei vollgeschriebene Seiten und für jeden Hausgenossen stand eine Passage darin. Wie oft hatte sie ihre Kinder gezwungen, etwas gegen ihren Willen zu tun? Keine Reaktion von Babs und Audi auf das Schreiben aus Holland? Schweigend wurde gegessen. Während sie zusammen aßen und ihre Kinder zufrieden nickten, tauchte nach dem, was nie ausgesprochen worden war, etwas auf wie die Taube-mit-Ölzweig; etwas, was sie ihnen erzählen wollte. Ohne jeden Einzelnen von ihnen – hätte sie es nicht geschafft in der Familie, nicht in der Stadt, nicht im Land und vielleicht auch nicht im täglichen Leben. Babs und Audi hörten ihr zu, schwiegen aber. Erst muss sie ihrem Bruder Winston in einem Brief klarmachen, dass ihre Tochter Heli wirklich noch ein Kind ist und ihr Juwel.

Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages.

Astrid H. Roemer. Bettina Bach (Übersetzung): Gebrochen Weiß. Residenz Verlag, Salzburg 2023. 416 Seiten, 28 Euro – www.residenzverlag.com
Bild: Residenz Verlag / Raul Neijhorst