Wer den kürzeren zieht, muss der Jugo sein

LESEPROBE / KARIN PESCHKA / DSCHOMBA

03/11/23Mit diesem Roman erweist sich Peschka als Chronistin ihrer Herkunft, des Gasthauses Roter Krebs, der Kleinstadtgemeinschaft Eferdings, der vergessenen Opfer beider Weltkriege.“ Das schrieb Sabine Scholl im Standard über den neuen Roman von Karin Peschka. – Hier eine Leseprobe.

Dechant
Als sich Herbert Genzl am neunten November 1954 in seinem Arbeitszimmer im Pfarrhof zum Kaffee setzen wollte, klopfte es an der Tür. Herein kamen, ohne die Aufforderung zum Eintreten abzuwarten, ein Gendarm und der Bestatter, es gab damals nur einen in Eferding. Kurz darauf eilten die zwei Männer mit dem Dechant in die Bahnhofstraße zu einem der beiden Seiteneingänge des Friedhofs, weil dessen Haupteingang beides war: verschlossen und belagert. Eine Menge drängte sich ans schmiedeeiserne Gitter, jeder wollte sehen und staunen, die Hinteren stießen die Vorderen und fragten: „Sagt, was tut der, randalieren? Wo bleibt die Gendarmerie?“
Die Vorderen machten die Sache nicht besser. „Unglaublich, unglaublich!“, wiederholten sie. Und: „Schau dir das an!“ Was die Ungeduld und Neugier der anderen steigerte. Währenddessen standen Bestatter, Gendarm und Dechant bei der schlichten hölzernen Tür, die damals oft benutzt wurde, weil weniger Verkehr auf der Straße. Im Herbst 1954 konnte man dort gut stehen, die Tür einen Spalt öffnen und hineinspähen, sehr vorsichtig, denn zum Schluss hat der Wahnsinnige ein Messer eing’steckt und ist ein Mörder, der einen anfällt und aus ist’s.
„Ich hab mir gedacht, Herr Dechant, weil es doch ein Friedhof ist, also Ihr Friedhof ist.“ Fing der Gendarm an. Und dass der Bestatter auch dieser Meinung sei. Und da der Friedhofswärter krank im Bett liege, von ihm habe man nur die Schlüssel geholt, sei man direkt zu ihm. Unterbrach der Dechant gröber, als er wollte (im Pfarrhof wurde der Kaffee kalt), was er sich dächte. Dass das Gesetz auf Gottesäckern anders laute als rundherum? Dass ein Wahn, weil er zwischen Kreuzen und Gräbern stattfinde, ein göttlicher wäre? Lauschte dann aber doch, denn zu sehen war nichts durch den Spalt. Kam ihm vertraut vor, das Gehörte, das, was dieser Mann mehr schrie als sang. Man hatte ihn vorsorglich durchs Versperren aller Türen und Tore eingeschlossen, er hatte es nicht bemerkt oder es war ihm bewusst. Der Fremde brüllte ein Lied, das dem Dechant bekannt vorkam. „Das ist Serbokroatisch. Hört ihr? Das ist ein serbisches Wiegenlied.“
Summte ein paar Worte mit.
Und öffnete die Tür ein Stück weiter. Bestatter und Gendarm wichen zurück. Der eine schob sich die Dienstkappe zurecht, der andere den Hut. An dessen Rand sich Tropfen sammelten, es nieselte stärker, und als ein Vogel schwarz und zeternd aufflatterte, erschraken beide.
Dem Dechant, der ohne Kopfbedeckung aus dem Haus geeilt war, wurde der Regenschirm lästig. Ein graues Unding und wirklich zu groß, er sperrte sich in der Öffnung der Tür. Der Geistliche beugte sich tiefer hinein in seinen Friedhof, den Griff des Schirms fest in der Hand: Der dünne Stoff blieb an einem Nagel im Holz hängen. Ein Rucken, ein feiner Riss. Weg damit.
„Obacht!“, rief einer, dem der Schirm vors Rad gefallen war. Der Mann fluchte, kam ihm das Fluchen überhaupt leicht an. War bekannt dafür. Er sollte von diesem Moment an behaupten und die Behauptung bei jeder Gelegenheit noch Jahre und Jahrzehnte später wiederholen: Der Serbe habe stets nur Unglück bedeutet, er hätte sich wegen ihm fast das Genick gebrochen. Der Dechant könne nichts dafür, ihn träfe keine Schuld, aber dem Fremden, man wisse eh. Und wusste es wieder nicht genau.

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages.

Karin Peschka: Dschomba: Otto Müller Verlag, Salzburg 2023. 376 Seiten, 26 Euro, auch als e-Book erhältlich – www.omvs.at 
Bild: Otto Müller Verlag / Walter Pobaschnig