Reden ist Gold. Schweigen auch.

LESEPROBE / SEIDENAUER / LIBELLEN IM WINTER

05/05/23 Gudrun Seidenauer, 1965 in Salzburg geboren, unterrichtet Deutsch, Kreatives Schreiben und Literatur. Libellen im Winter ist ihr erster Roman bei Jung und Jung. Im jungen Frieden der Nachkriegszeit suchen die drei Freundinnen Grete, Vera und Mali nach Partnern, ihrem Weg und einem neuen Leben. Zentral ist das Thema Freundschaft. – Hier eine Leseprobe.

Von Gudrun Seidenauer

Als sie mit Roland auf der Mauer hinter dem alten Feuerwehrhaus saß, blühte der Löwenzahn und unentwegt rief ein Kuckuck, sie weiß es noch genau. Kinder aus der Nachbarschaft spielten mit Holzschwertern und schauten ein paarmal neugierig zu ihnen herüber. Roland schien das nicht zu kümmern, und Mali hielt das für ein gutes Zeichen. Der Frühling, das Aufblühen und der unbeirrbare Vogelgesang waren wie herausgeschnitten aus allem anderen. Die Jungen starben und die Alten blieben, es gab kaum anderes als Vergehen. Vergehen und Verrecken. Aber für eine Weile musste sie es nicht mehr sehen.
Rolands Gesicht, Rolands Worte, Rolands Berührungen: Jetzt wusste sie, wofür es sich lohnte. Sie und Roland waren oft miteinander verzweifelt gewesen. Dass darin etwas Schönes lag, wem hätte sie das erklären können? Dass es so viel besser war, etwas zu fühlen, nachdem ihr Leben seit dem Tod der Mutter in ein graues, flächiges Nirgendwohin verlaufen war. Roland und sie redeten stundenlang, aneinandergeschmiegt in der Kälte, die durch die Ritzen in den Heuschober drang, in dem sie sich nachts manchmal trafen.
»Es wird unser Unglück sein, was wir ihnen angetan haben«, sagte Roland.
»Wieso sagst du wir?«, fragte Mali. »Du und ich, wir haben doch niemandem etwas getan.«
Roland kannte Leute, die welche kannten, die. Seine Quellen waren verlässlich.
Mali wurde eine Meisterin darin, lautlos vom Hof zu schleichen, wo sie den Reichsarbeitsdienst leistete. Dass sie wenig redete und kräftig in der Schmiedewerkstatt zupackte, obwohl sie auf dem Gymnasium war und Latein und Englisch konnte, wurde ihr als sympathischer Zug ausgelegt. Die schwere Arbeit machte ihr nichts aus, sie tat sie nicht für diese Leute. Wenn sie arbeitete, musste sie nicht an die Mutter denken, nicht an die Todesmeldungen, die wöchentlich mehr wurden, nicht an die Flugzeuge, die jetzt noch über die Gegend hinwegzogen, und nicht an das Gemunkel über irgendetwas Ungeheures, nicht weit weg im Nordosten. Seitdem sie Roland kannte, glaubte sie es. Gesehen hatte sie schon vorher einiges, aber sie hatte es nicht verstanden, es schien zufällig zu geschehen, ohne Sinn, aus grausamer Willkür. Zuerst wurde den Zwillingen vom Uhrengeschäft, das Juden gehörte, der Hund vergiftet, dann die Scheiben eingeschlagen und der Laden verwüstet. Mali hatte die Gesichter gesehen, als sie mit dem Rad von der BDM-Stunde heimgefahren war, hinten den Korb mit der ekelhaft kratzigen Wolle, aus der sie Socken für unsere tapferen Soldaten stricken mussten. Als sie das Klirren gehört hatte, war es schon zu spät für einen Umweg gewesen. Den Mann hatten sie die Treppe hinuntergestoßen und den Verletzten einfach auf den Gehsteig gerollt. Die Frau hatte einer an den Haaren gezerrt. Von Mali hatte niemand Notiz genommen. Sie war noch in Uniform und trat in die Pedale, so fest sie konnte.
Roland erzählte sie alles. Auch dass ihr der Führer gleichgültig war und, seitdem die Mutter gestorben war, sogar Gott. Vor der Stimme des Führers im Radio hatte sie schon als Kind Angst gehabt, und dass ihre Schwester und ihr Vater sie deshalb auslachten, hatte es nicht besser gemacht. Auch Roland konnte den Führer nicht leiden. Außer Gott liebte er nur Mali, immer wieder sagte er es ihr. Wenn er es tat, war es wie Wasser, wenn man es dringender brauchte als alles andere auf der Welt. Sie hätte sich so etwas nie vorstellen können. Die Vorstellung von etwas Schrecklichem war immer viel einfacher als die von etwas Schönem.
Roland war zweiundzwanzig, sie achtzehn. Nachdem er als Achtjähriger von einem voll beladenen Heufuhrwerk gefallen und unter die Räder geraten war, war sein Knie steif geblieben, und er wurde nicht zum Wehrdienst eingezogen. Er arbeitete im Kreispostamt und las konfiszierte Bücher, die ihm ein Freund aus der Sammelstelle verschaffte. Roland war groß und muskulös, dennoch ein Krüppel. Einer, der seinen Dienst für Volk und Vaterland nicht an der Front leistete, war trotz des Geschwafels von der Heimatfront bestenfalls bedauernswert.

Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlages

Gudrun Seidenauer: Libellen im Winter. Roman. Mit Zeichnungen von Luka Leben. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2023. 432 Seiten, 24 Euro, auch als e-Book erhältlich – jungundjung.at  
Bild: Jung und Jung Verlag / Barbara Klein