In der sozialrevolutionären vorakademischen Glaubensgemeinschaft, in die ich mich während meiner Studienzeit lustvoll rekrutierte, gab es allerlei Heiliges. Nicht die heilige Messe, versteht sich, nicht den Heiligen Geist und auch nicht die Heilige Familie. Die am allerwenigsten! Dafür gab es aber die heilige klassenlose Gesellschaft, das Heilige Proletariat und die Heilige Revolution. Heiliges ist nicht verhandelbar. Dafür braucht man keine Diskussionen, sondern Bekenntnisse: Ich glaube an die Arbeiterklasse, die fortgeschrittenste Klasse der Geschichte. Ich glaube an ihre objektive historische Aufgabe, die Große Revolution. Sie wird uns erlösen von dieser alten, verkehrten Welt und an ihrer Stelle eine neue und gerechte errichten: die klassenlose Gesellschaft. –So legten wir unser heiliges Buch aus, das Manifest der Kommunistischen Partei, verfasst von den erleuchteten Propheten Marx & Engels. Wer daran zweifelte, war ein Revisionist, ein Reformist, ein Steigbügelhalter der Reaktion, ein nützlicher Idiot des Kapitals, ein Kleinbürger, ein Hemmschuh der historischen Entwicklung, ein Faschist. Ihrem Selbstverständnis nach war die radikale studentische Linke der Siebzigerjahre rational und demokratisch, tatsachlich war sie aber zutiefst mythisch und autoritär. Und einer ihrer Hauptmythen war die Revolution. Den Begriff Revolte hingegen vermied man. Dem haftete zu viel Unangenehmes an, Störendes, Widersprüchliches, Unberechenbares, Grausames. Revolutionen hatten nach Plan zu verlaufen, Revolten hingegen verliefen erfahrungsgemäß im Chaos: zerschlagenes Glas, abgefackelte Häuser, gehängte, erschossene, verstümmelte Körper. Und fragte man nach Grund und Zweck der Zerstörung, waren die Antworten oft unbefriedigend. Mit den konkreten Details der chinesischen Kulturrevolution (zum Beispiel) beschäftigte man sich in eingeweihten Kreisen lieber nicht. Die Ähnlichkeit mit dem Terror selbstgefälliger Nazibanden wäre zu offensichtlich gewesen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Literaturfestes Salzburg