Schärfe und Kontur

RAURISER LITERATURPREISE 2020

03/02/20 „Angela Lehners Debütroman Vater unser beginnt wie eine Variation auf das Genre Psychiatrie-Roman, doch rasch entfaltet die souverän geführte Erzählstimme einen ganz eigenen Sog. Dabei ist die Hauptfigur Eva Gruber alles andere als eine zuverlässige Instanz.“

Das schreibt die Jury über Angela Lehners Debütroman Vater unser, der 2019 bei Hanser Berlin erschienen ist. Für ihren Erstling erhält die Autorin den mit 10.000 Euro dotierten vom Land Salzburg vergebenen Rauriser Literaturpreis 2020. Die Jury, bestehend aus Lucas Marco Gisi, Evelyne Polt-Heinzl und Wiebke Porombka, beschreibt weiter: „Sicher ist zunächst einmal nur ihre Einlieferung in die geschlossene Anstalt am Wiener Steinhof. Dass der Grund dafür ein Amoklauf in einem Kindergarten war, steht hingegen am Anfang der vielen Lügen, mit denen sich die junge Frau eine eigene Realität zusammenstellt. … Dass ihre Version der Ereignisse sich nicht mit jener der Menschen rund um sie deckt, nutzt die Autorin für die Relativierung gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen und psychiatrischer Zuweisungen genauso wie zur Charakterzeichnung ihrer so aufmüpfigen wie gewitzten Hauptfigur, die ihre Umwelt gnadenlos beobachtet und die eigenen Ziele rücksichtslos verfolgt.“

Dass dies erzähltechnisch bruchlos gelinge, so die Jury, liege auch daran, dass Angela Lehner ihre Figur mit einer keck-schroffen, nie überstilisierten Sprache aus ihrer sehr speziellen Weltwahrnehmung heraus berichten lasse: „Vater unser fordert mit seinen schwebenden Realitätsvalenzen nicht nur zu einer zweiten Lektüre heraus, das Buch gewinnt dabei an Schärfe und Kontur. Das aber kommt – keineswegs nur bei Debüts – gar nicht allzu häufig vor.“

Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, lebt als Autorin und Texterin in Berlin. Sie studierte Komparatistik in Wien, Maynooth in Irland und Erlangen. 2016 nahm sie Teil an der „Autorenwerkstatt Prosa“ des Literarischen Colloquiums Berlin. 2018 war sie Finalistin beim Literaturpreis Floriana. Die Autorin blickt auf Veröffentlichungen etwa im gesellschaftspolitischen Zeit-Online-Format „10 nach 8“. Der Debütroman Vater unser (Hanser Berlin 2019) wurde bereits mit dem Literaturpreis Alpha, dem Franz-Tumler-Literaturpreis und dem im Rahmen des Österreichischen Buchpreises vergebenen Debütpreis ausgezeichnet.

Vanessa Graf erhält den mit 5.000 Euro dotierten vom Land und der Gemeinde vergenen Rauriser Förderungspreis 2020. Zum vorgegebenen Thema Innehalten reichte Vanessa Graf ihren Text Genauso schwarz wie hier ein. In der Begründung der Jury, bestehend aus Ludwig Hartinger, Liliane Studer und Erika Wimmer, heißt es: „Dass die Mutter an Demenz erkrankt ist, kann die Ich-Erzählerin … nicht länger leugnen. Sie nimmt die Herausforderung an, die Mutter auf diesem Weg zu begleiten. Symbolisch für die Welt, in die sich die Mutter zurückzieht, stehen die Schachteln, die sich in und vor deren Wohnung türmen und für die Tochter zunehmend unüberwindbar werden.“ Diese suche dennoch unbeirrt weiter nach Kontaktmöglichkeiten zur Mutter, finde sie über Berührungen, über körperliche Nähe. Dabei würden auch Verunsicherung und aufkeimende innere Widerstände nicht ausgespart: „Einfühlsam erzählt Vanessa Graf von einer Mutter-Tochter-Beziehung, die ständig neu definiert werden muss. Sprachlich überzeugend zeigt die Autorin

auf, dass die Krankheit der Mutter das ganze Beziehungsgeflecht – zur Mutter, zum Freund, zum Bruder – ins Wanken bringt, dass sich nicht nur die Mutter nach einem Zuhause sehnt.“

Vanessa Graf, geboren 1992 in Salzburg, studierte Politikwissenschaften am Institut d’études politiques de Paris, bevor sie 2016 als Autorin, Fotografin und Filmemacherin für die Ars Electronica in Linz zu arbeiten begann. Als freie Journalistin leitet sie die Redaktion des Onlinemagazins Fräulein Flora Linz und schreibt momentan ihre Masterarbeit zu den öko-kulturellen Auswirkungen des Internets an der Kunstuniversität Linz. (RLT/dpk-klaba)

Bilder: Rauriser Literaturtage / Ramona Waldner (1); Niko Zuparic (1)
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