Beneidenswerter literarischer Fanatismus

RAURISER LITERATURTAGE

26/03/12 Ob man darüber schreibt oder schweigt, jeder Schriftsteller nährt sich intensiv aus seiner Kindheit, meint Sibylle Lewitscharoff. Brita Steinwendtner führte das traditionelle „Gespräch über Kindheit“ am Samstag-Vormittag (24.3.) der Literaturtage mit Sibylle Lewitscharoff, Juri Andruchówytsch und Aleš Šteger. Der international besetzte Samstag-Abend war ein Marathon - mit einer Wortkaskade auf Brita Steinwendtner zum guten Schluss.

Von Cornelia Absmanner

Schriftsteller erzählen von Träumen und Traumata, von Ängsten und von Freuden, die sie geprägt haben: Sibylle Lewitscharoff nennt dieses Phänomen im Gespräch mit Brita Steinwendtner die „Zwingherrschaft der Kindheit“. Als Tochter eines emigrierten bulgarischen Arztes und einer deutschen Mutter sei sie im sozialen Spannungsfeld zwischen der bulgarischen Migrantenkolonie in Stuttgart und der schwäbischen Strebsamkeit aufgewachsen. "Der Vater litt an Depressionen und die sportliche Mutter ging nur mit dem Eispickel ins Gebirge." Ihre „Kindheitsretterin“ sei daher ihre religiöse Großmutter gewesen, eine „liebenswürdige Schutzgöttin“, bei der sie Zuflucht fand.

Aleš Šteger stammt aus dem slowenischen Ort Ptuj, das einst das südsteiermärkische Pettau war und nahe der Grenze liegt. Schon als Kind sei ihm bewusst gewesen, „dass gleich jenseits der Grenze andere Sprachen gesprochen werden, und dass daher seine eigene Sprache etwas Fragiles und Nicht-Selbstverständliches ist“. Jahre später umwanderte Šteger die Grenzen des slowenisch-sprachigen Gebietes, umrundete „barfuß seine Sprachheimat“.

Auch für Juri Andruchówytsch spielen Grenzerfahrungen und Reisen eine große Rolle: Der ukrainische Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer wurde in Stanislaw geboren und erlebte seine Kindheit und Jugend als „Hölle“. Ihm sei nur die Flucht in eine Parallel-Welt geblieben, in der er das Schreiben als Rettung entdeckt und heimlich aus dem Westen geschmuggelte Musik gehört habe. Die größte Freude bereitete ihm das Reisen, erzählt Andruchówytsch im Gasthof Platzwirt. Mit seiner Großmutter sei er zum Bahnhof spaziert, „ um Züge und Reisende zu beobachten und sich in ferne Welten zu träumen“.

Wahrheit im Spannungsfeld der Kulturen

Am langen Samstagabend versammeln sich Autoren aus China, Deutschland, Slowenien und der Ukraine in Rauris. In China beginnt eine Lesung mit einem Schluck Schnaps: Der Sinologie-Experte Wolfgang Kubin hat daher eigens eine kleine Flasche mitgebracht und schenkt sich selber und dem chinesischen Lyriker Wang Jiaxin ein - in antike chinesische Schälchen. Wang Jiaxin trug seine Gedichte auf Chinesisch vor, Wolfgang Kubin las seine Übersetzung, aber auch eigene Gedichte aus dem Band „Das Dorf der singenden Fische“. Das Chinesische klingt trotz der vielen Zischlaute sehr melodisch und erinnert ein bisschen an Vogelgezwitscher. Jiaxins Gedichte zeichnen sich durch ihre Schlichtheit aus: Er sagt das Einfache einfach und versteckt die Tiefe an der Oberfläche.

Anschließend las Christoph Ransmayr aus dem noch unveröffentlichten „Atlas eines ängstlichen Mannes“. In seinen episodischen Geschichten „Der Weg nach Surabaya“ nimmt er das Publikum auf eine Reise durch die Welt und die Zeit mit: zu einem Begräbnis in Brasilien, zu einer Fahrt auf dem Mekong-Fluss in Laos, in eine psychiatrische Anstalt in Wien und zu den Brutstätten der Albatrosse auf Neuseeland. Ransmayr beschreibt die unterschiedlichen Landschaften und erzählt einfühlsam die Geschichten der Menschen, die er auf seinen Reisen getroffen hat.

„Das Publikum in Rauris ist heldenhaft“, sagt Juri Andruchówytsch, als er um halb elf mit Aleš Šteger die Bühne betritt. Dieser fühlt sich angesichts „dieses beneidenswerten literarischen Fanatismus“ sehr wohl. Šteger trägt lyrische Texte und Gedichte aus dem „Buch der Dinge“ und dem „Buch der Körper“ vor. Andruchówytsch liest einen fiktiven und sehr kurzweiligen Vortrag über die Ukraine aus seinem Roman „Perversion“ vor.

Zum Abschluss des Abends tritt Juri Andruchówytsch als Sänger auf und performt seine Gedichte. Begleitet wird er von Vera Kapeller am Klavier und Peter Conradin Zumthor am Schlagzeug. Die Urgewalt seines Auftritts ist überwältigend, die Energie überträgt sich elektrisierend auf das Publikum. Das ist Lyrik, bei der man nicht schlafen kann: Eine Mischung aus lautem, wilden Sprechgesang, ukrainischen Volksstücken und eindringlich zarten Liedern.

Als Überraschung und Abschiedsgeschenk für Brita Steinwendtner betritt zum Schluss Bodo Hell die Bühne und führt mit Andruchówytsch und musikalischer Begleitung eine dadaistische Wortkaskade zu ihrem Namen auf, bei der wild durcheinander Wörter zu „Brita“ assoziiert werden. Das Wort „Imperfekta“ habe ihr am besten gefallen, sagt Steinwendtner, als sie sich bei den Künstlern bedankt: „Denn ich bin nicht perfekt. Man kann noch vieles besser machen und diese Aufgabe lege ich mit Freude in die Hände meiner Nachfolger Ines Schütz und Manfred Mittermayer!“

Für DrehPunktKultur berichten aus Rauris wieder Studierende von Christa Gürtler, die im Rahmen der Lehrveranstaltung "Literaturbetrieb und literarisches Leben in Österreich (Rauriser Literaturtage 2012)" am Fachbereich Germanistik an den Rauriser Literaturtagen teilnehmen.

Bilder: www.rauriser-literaturtage.at