Die Vielfalt der Literatur

RAURISTER LITERATURTAGE / TAG 4

13/04/10 Eher unbekannte Autoren wie der Malawier Samson Kambalu oder der Schweizer Arno Camenisch, aber auch bekannte Autoren wie Peter Esterházy, Katja Lange-Müller oder Wolf Haas lasen aus ihren Werken: Die acht Lesungen des vierten Tages erzählten vom Facettenreichtum der Gegenwartsliteratur. Wird „Rauris“ zu groß? Die Frage drängt sich tatsächlich auf angesichts überfüllter Säle.

Von Benjamin Philippi

Wieder genoss ein Großteil der in Rauris weilenden Literaturinteressierten die  Lesungen des sozusagen nur aus der Retorte, nämlich via Live-Übertragung in den Platzwirt. Einige der Anwesenden beklagten die Massen von Menschen, die inzwischen zu den Literaturtagen nach Rauris pilgern. Andere empfanden es sehr positiv, zu sehen, wie viele Menschen sich für qualitativ hochwertige Literatur immer noch begeistern können. Die Intimität zwischen Autorinnen und Autoren und dem Publikum habe aber im Laufe der Jahre sicherlich abgenommen. Darunter litt vor allem die Lesung Julian Schutting. Der Salzburger Literaturkritiker Anton Thuswaldner sprach noch vor der Lesung davon, wie schnell man bei dessen voller Anspielungen gespickten Texten den Anschluss verliere, passe man einmal nicht auf. Dies wurde dann leider bestätigt. In einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal herrscht ständig ein wenig Unruhe, die es fast unmöglich macht, den betont künstlich gestalteten Gedichten Schuttings zu folgen.

Auf Schutting folgten drei Lesungen von multilingualen Autoren. Den Anfang machte der junge Schweizer Autor Arno Camenisch. Dessen sowohl auf Deutsch als auch auf Rätoromanisch verfasster Prosaband „Sez Ner“ beschreibt kleine Episoden eines Sommers auf der Alm. Dieser wird aber nicht als idyllisch dargestellt, sondern die Natur, Tiere und Menschen stehen in einem ständigen Kampf gegeneinander. Es wird deutlich, wie der urbane Lebensstil auch die Alm erfasst hat: Der Pfarrer kommt zum Beispiel nicht mehr zu Fuß auf die Alm, um die Segnung für einen guten Sommer vorzunehmen, sondern er fährt mit dem Moped. Speziell wurde die Lesung Camenischs dadurch, dass er einige Passagen auch in seinem rätoromanischen Idiom vortrug. Die auffallende Melodik dieser Sprache klingt auch in den hochdeutschen Versionen seiner Texte wider. Diese besondere Sprache Camenischs, gepaart mit den von ihm beschriebenen grotesk-amüsanten Almszenarien, hinterließen beim Publikum einen bleibenden Eindruck.

Auch bei Marica Bodroži? stand die Sprache im Mittelpunkt der Betrachtung. Bodroži? wurde in den 70er Jahren in Dalmatien geboren und kam im Alter von neun Jahren nach Deutschland. Durch diese Erfahrung geprägt, macht sie sich für einen sorgfältigeren Sprachgebrauch stark, denn wie Britta Steinwendtner es ausdrückte, hängen Sprache und Leben auf magische Weise zusammen.

Die Lesung des malawischen Autors Samson Kambalu aus seinem stark autobiographischen Roman „Jive Talker“, war aus mehreren Gründen einzigartig. Kambalu trug immer kleinere Passagen aus seinem Werk vor und darauf folgte die deutsche Übersetzung. Es spricht sehr für die Organisatoren  Rauriser Literaturtage, dass sie durch die Einladung von Samson Kamabalu Afrika mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben. Kambalu wehrt sich in seinem Buch gegen gängige Vorurteile und Klischees über Afrika. Obwohl seine beiden Eltern an Aids gestorben sind, will er kein Mitleid. Deshalb hält er sich auch an die Philosophie des von ihm und seinem Vater hoch verehrten Friedrich Nietzsche und kann mit dem Christentum dagegen überhaupt nichts anfangen. Wenn man Samson Kambalu beim Erzählen seiner Geschichte genau zuhörte, konnte man nicht nur sehr viel über Afrika, sondern auch über die westliche Welt lernen.

Katja Lange-Müllers ebenfalls stark autobiographisches Werk „Böse Schafe“ handelt von der aus der DDR nach Westberlin geflüchteten Schriftsetzerin Soja, die sich dort in den HIV-positiven Drogensüchtigen Harry verliebt. In der Passage, die Katja Lange-Müller aus ihrer Erzählung vorliest, wird deutlich, wie Berlin in den 80er Jahren zum Fluchtpunkt von den unterschiedlichsten Menschen geworden ist und wie gerade eine gesellschaftliche Außenseiterin wie Soja nach einer Liebesbeziehung dürstet. Eindrucksvoll gelingt es der Schriftstellerin, die unterschiedlichen Merkmale von Tragödie und Komödie in ihrer Erzählung miteinander zu verbinden. Mit diesem Mix aus Ernst und scharfsinnigem Witz zog Katja Müller-Lampe auch gestern Abend die Zuhörer in ihren Bann.

Auch der überaus charismatische ungarische Autor Peter Esterházy las zum ersten Mal in Rauris. Wie Katja Müller-Lange mit der DDR einen ehemaligen Staat aus dem sogenannten Ostblock in den Focus ihres literarischen Schaffens rückt, tut dies Esterházy mit Ungarn. Esterhazy las aus seinem Roman „Harmonia Cælestis“.

Dieser Roman erzählt die Familiengeschichte der gräflichen Familie Esterházy. Die Geschichte dieser Familie spiegelt aber auch die Geschichte Ungarns wider. So konnte man anhören, wie es Peter Esterházy gelingt, in der Darstellung eines Streites zwischen seinem Vater und einem Kellner eines Budapester Restaurant über verdorbene Froschschenkel, die Identitätskrise Ungarns nach 1956 zu beschreiben. Auch Peter Esterházy beeindruckte mit seinem tiefsinnigen Humor und manchmal wurde das Lachen der Menge so laut, dass man den Autor trotz der überall aufgestellten Lautsprecher fast nicht mehr verstehen konnte. In der Pause nach der Lesung Esterházys war zu beobachten wie sein Roman zum begehrtesten Buch am Büchertisch wurde.

Einen Riesenvorteil gegenüber fast allen anderen Autoren, die bei den Literaturtagen dieses Jahr gelesen haben, hatte Wolf Haas. Der überwiegende Teil der Anwesenden kannte die Geschichten die Brenner-Romane entweder aus eigener Lektüre oder zumindest aufgrund der Filme. Haas konnte daher ohne viel erläutern zu müssen, direkt mit dem Lesen aus „Der Brenner und der liebe Gott“ beginnen. Sofort hatte der Sprachkünstler Haas die volle Aufmerksamkeit, und er zog alle Anwesenden mit seiner schnellen Sprache in seinen Bann. Auch wenn es schon etliche Male so, in Anlehnung an einen von Haas selbst geschriebenen Werbetext, gesagt wurde: „Haas gehört gehört.“

Die schwere Aufgabe, nach Wolf Haas zu sprechen, hatte Hubert von Goisern, der aus seinen noch unveröffentlichten „Logbüchern“ vortrug. Diese beschreiben Hubert von Goiserns Idee, ihr Heranreifen und ihre Realisierung, mit einem Konzertschiff die Donau in beide Richtungen zu befahren. Der Grundgedanke dieser Schiffstournee war die Völkerbindung in Europa. In einem Europa, das stets vorgibt, freier und grenzenloser zu werden. Er wollte die trennenden und einigenden Kräfte in Europa aufspüren, betonte er.

Leider enttäuschten die für die Lesung ausgewählten Textstellen sehr. Sie beschrieben vor allem Stationen der Planung und der Organisation dieser Tournee und offizielle Empfänge bei ukrainischen Bürgermeistern, für die sich der Musiker auch nicht sonderlich zu interessieren schien. Direkter Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung wurde in den gestern präsentierten Ausschnitten leider nicht thematisiert, obwohl es die längste Lesung des gesamten Abends war. Die Enttäuschung über die Lesung minderte Hubert von Goisern durch das, was er am besten kann, durch Musizieren.

Bilder: www.rauriser-literaturtage.at
Von den Rauriser Literaturtagen berichtet für den DrehPunktKultur auch heuer wieder ein Gruppe von Studierenden des Fachbereichs Germanistik der Universität Salzburg: Lea Müller, Magdalena Stieb, Eva Müller, Alexander Macho und Benjamin Philippi nehmen teil an der Lehrveranstaltung „Literaturbetrieb und literarisches Leben (Rauriser Literaturtage)“ unter der Leitung von Christa Gürtler.