Frühlingserwachen

HÖRVERGNÜGEN / ARGERICH / NTOKOU

09/02/21 Der Salzburger CD-Händler Andreas Vogl präsentiert in der Essay-Reihe Hörvergnügen unseren Leserinnen und Lesern Lieblings-CDs aus allen Genres von der großen Oper zum intimen Lied. – Heute empfiehlt er zum Lockdown-Ende einen Spaziergang – musikalische Erquickung inspiriert von der Natur.

Von Andreas Vogl

Bewegung, ohne örtliches und geistiges Ziel und ohne Zeitdruck, eher zur deren Vertreib und zur eigenen Erbauung - das ist Spazierengehen. Spaziare – italienisch für sich räumlich ausbreiten – ist ein bereits über Jahrhunderte gebräuchliches Freizeitvergnügen von uns Menschen, in der Promenadologie sogar zur Wissenschaft erhoben.

Man kann bummeln, in der Stadt flanieren, auf einem Platz promenieren, aristokratisch lustwandeln und bürgerlich schlendern. Viele tun es sonn- oder feiertags (berühmt in der Literatur ist etwa der Osterspaziergang in Goethes Faust). Wenige tun es nachts im Schlaf (erwähnt sei Bellinis Sonnambula). In letzter Zeit machen wir es einfach alle, wenn uns sprichwörtlich die „Decke auf den Kopf“ fällt, wir uns beklemmt fühlen und im freien Raum der Natur aufzu atmen versuchen. Das Spazierengehen erlebte eine Renaissance.

In der Musik war und ist so ein Spaziergang oft vermeintlicher Einfallsgeber und inspirierendes Ereignis. Beethovens Pastorale, seine sechste Sinfonie, ist gerüchteweise in Wiens Vororten, in Grinzing und Nußdorf, entstanden, wo ihm die Natur die Ideen geliefert haben soll. So ganz wird das wohl doch nicht stimmen. Beethoven war aber ein großer Naturfreund und Spaziergänger und die Programmmusik der einzelnen Sätze mit Titeln wie „Szene am Bach“, „Lustiges Zusammensein der Landleute“ und „Donner, Sturm“ verleiten schon, sich einen Komponisten auf einem Bankerl in der Natur, mit Notenpapier vorzustellen.

Die Nähe zur Natur führt so auch zum Begriff der Romantik: Ist es doch besonders diese Epoche, die im ausgedehnten Spazierengehen, im Wandern einen tiefen Sinn und den Spiegel des eigenen Inneren sucht. Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde Sonntagsspaziergang (der hängt übrigens im Salzburg Museum) vermittelt dies aber auch eher kitschig biedermeierlich naiv. Im Gegensatz zu den melancholisch-sinnierenden Wanderer-Liedern und Liedzyklen Franz Schuberts, die durchaus sein eigenes Gemüt und den ewig suchenden Künstler abbilden.

Die berühmteste musikalische Promenade hat direkt Bezug zur bildenden Kunst: Modest Mussorgsky’s Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung - Erinnerungen an Victor Hermann von 1874 erzählt vom Spaziergang durch ein Museum. Die verschiedenen Gemälde werden mit thematisch sich wiederholenden Leitmotiven, den „Promenaden“ verbunden und sollen den Komponisten selbst darstellen, aber vielleicht auch die Reflexion des Gesehenen manifestieren. Ebebfalls für Klavier schrieb Francis Poulenc seinen Zyklus Promenades von 1921/1952: Hier geht man nicht nur zu Fuß, sondern auch „Á Cheval“  (zu Pferd), „En bateau“ (Boot), „En avion“ (Flugzeug) oder „En chemin de fer“ (Eisenbahn). Und wenn die Stadt Salzburg in normalen Zeiten zum Silversterpfad bzw. zur Klangmeile lädt, dann tanzen wir sogar auf unserem erquickenden Spaziergang.

Bleiben wir bei Beethoven: Die Pastorale wurde von Martha Argerich und ihrer griechischen Kollegin Theodosia Ntokou in der Fassung für zwei Klaviere des deutschen Organisten und Musikwissenschaftlers Selmar Bagge aus dem Jahr 1823 eingespielt. Ein herrlich leichtes Vergnügen und die einzelnen Themen dieser „Natursinfonie“ tänzeln in den Händen der beiden Pianistinnen wie auf einem gemeinsamen Spaziergang durch die Tastaturen. Hinreißend! Dazu passend gibt es die Sturm-Sonate op.31/2.

Martha Argerich & Theodosia Ntokou: Beethoven. Pastorale-Sinfonie und Sturm-Sonate Warner 9029516403
Bild: privat