Oh strahlender Edelstein

CD-KRITIK / HILDEGARD VON BINGEN

23/07/14 Die Benediktinerin Hildegard von Bingen ist vor zwei Jahren zur Kirchenlehrerin erhoben worden. Seither gilt sie katholischen FrauenversteherInnen endgültig als Urmutter umfassender weiblicher Kompetenz in Glauben und Gartenpflege. Da ist populärwissenschaftlich noch Potential drin.

Von Reinhard Kriechbaum

Wie schaut es mit der Musik der Hildegard aus? Sequentia, die früh verstorbene Barbara Thornton und dann Benjamin Bagby – das waren die Interpretations-Maßstabsetzer über drei Jahrzehnte. Ist nun alles ausgesagt über ihre Schöpfungen? Das Repertoire ist textlich, theologisch und musikalisch durch und durch analysiert. Der rhythmische Umgang mit der Notation – salopp gesagt Metzer Neumen auf vier Notenlinien, unterwegs zur Hufnagelnotation – ist so gesichert, dass Interpreten vergleichsweise wenig Ermessensspielraum bleibt.

Eine eher offene Frage ist, wieweit die Gesänge der Hildegard als Solo- oder Gruppengesang einzustufen sind. Kein Kloster wird eine Sängerinnentruppe von der Kompetenz von „Sequentia“ gehabt haben. Sabine Lutzenberger geht die Sache als Solistin an, und das hat natürlich viel für sich. Sie ist eine Intimkennerin des Stils und geht stimmlich absolut unprätentiös zu Werk: Sie hat ein untrügliches Gefühl, wo die liturgisch nicht immer klar zu positionierenden Stücke quasi dienende Funktion haben. Aber sie vermittelt auch, wo Hildegard sehr bewusst die ästhetischen Möglichkeiten ihrer Zeit auslotete. Der Tonumfang des oft zitierten „O lucidissima Apostolorum turba“, dieser auf zweieinhalb Oktaven aufgefächerte Apostel-Lobpreis, verlangt nach sängerischer Entäußerung. Diese versagt Sabine Lutzenberger der Musik und der Erwartung der Hörer nicht.

„Kiss of peace“ heißt die CD, die Floskel „osculum pacis“ ist der Heiliggeist-Antiphon „Caritas Abundat“ entnommen. Im Ensemble PER-SONAT macht die Sopranistin gemeinsame Sache mit Baptiste Romain, einem Spezialisten für mittelalterliche Fideln. Sie selbst schlägt die Glöckchen, aber nur ein einziges Mal, eben in dieser Antiphon mit Friedenskuss-Aufforderung, wobei sie strukturell charakteristische Wendungen der Kirchentonart unterstreicht.

Wie man es mit Instrumenten hält, ist ja auch immer wieder eine Herausforderung. Vieles singt Sabine Lutzenberger unbegleitet. Das erste Stück, „O splendissima Gemma“ (Oh strahlender Edelstein) dauert geschlagene zehn Minuten! Da tut es gut, dass der eine oder andere Gesang dem Fidelspieler anvertraut ist, der auch eine kürzere Improvisation auf der Streichleier beisteuert. Mehrmals versichert sich die Sängerin auch des Zutuns des Kollegen – er legt dann Borduntöne und illustriert ebenfalls Harmonien der Kirchentonarten. Uneitel sind sie beide, und so kommen sowohl Poesie wie auch poetischer Gehalt der Gesänge unaufdringlich rüber, und trotzdem charismatisch.

Hildegard von Bingen: Kiss of Peace. Songs from Dendermonde Manuscript. Sabine Lutzenberger, PER-SONAT. Christophorus, CHR 77376 – www.per-sonat.de