Was Lao Ma über die Chinesen weiß

NACHGEFRAGT BEI WOLFGANG MASTNAK

10/04/20 In der Krise reden alle von China. Besonders, seit wir alle Masken tragen, wie sonst nur die Chinesen beim Flanieren in der Getreidegasse. Gib es sie tatsächlich, die kulturell bedingten Unterschiede zwischen „östlicher“ und „westlicher“ Mentalität und Etikette? Wie nur wenige Europäer hat Wolfgang Mastnak einen Einblick in chinesische Lebensart- und Kunst.

Von Heidemarie Klabacher

Wolfgang Mastnak, ein gebürtiger Salzburger, hat zunächst am Mozarteum und an der Paris Lodron Universität studiert. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Musikpädagogik und Schulmusik an der Hochschule für Musik und Theater in München. Im Kontext einer akademischen Zusammenarbeit zwischen dem Freistaat Bayern und der Volksrepublik China ist Wolfgang Mastnak einer der Direktoren des Bayerischen Hochschulzentrums für China. Nach Jahren zunächst in Shanghai pendelt er jetzt zwischen Peking und München. Seine Aufgabe: „In und für China künstlerische Musiktherapien zu entwickeln, die medizinisch fundiert sind und auf chinesischer Kultur gründen.“ Der Wissenschaftler betont: „Ich bringe nicht etwas 'Westliches' nach China, sondern helfe den Chinesen, künstlerische Therapien aus ihrer eigener Kulturtradition zu heben und zu entwickeln.“

Mentalitäts-Unterschiede? Die gibt es nicht nur zwischen Ost und West. „Europa ist viel kleiner als China. Jemand aus Göteborg tickt nicht gleich, wie ein Sizilianer. Genau solche Welten liegen zwischen Chinesen. Ein ganzer Kosmos.“ Man müsse „stark differenzieren“, betont Mastnak. „Es gibt nicht nur die Han, also jene Volksgruppe, die wir im Westen normalerweise unter 'Chinesen' verstehen, sondern 55 von der Volksrepublik China anerkannte Ethnien mit eigener Sprache und eigenem Bildungssystem.“ Es gebe unter den Volksgruppen „ziemlich autonome Regionen, die ziemlich autonom ihre Kultur leben können“. In den Reisepässen der Volksrepublik stehe immer auch die Ethnie.

Da fallen der westlichen Journalistin natürlich die Uiguren ein: Tatsächlich gehe China gegen radikale Uiguren radikal vor, „da gibt es auch terroristische Gruppen“. „Die Uiguren, die ich kenne fordern nicht einen unabhängigen Staat. Sie sagen viel mehr 'Wir können in Schulen und Ämtern und Unis unsere eigene Sprache sprechen, unsere Bräuche leben und auf unseren Festivals unsere Musik spielen und unsere Tänze tanzen...'“ In dieser Volksgruppe gebe es für sein Fachgebiet spannende Traditionen, wie Heiltänze oder Heilriten, „deren Erforschung und Bewahrung von China auch mit Geld unterstützt wird“, betont Mastnak.

Lao Ma, 老马. So nennen ihn die Chinesen. „Niemand sagt dort zu mir Wolfgang Mastnak.“ Er gelte für die Chinesen als Chinese: „In Reinkarnation halt. Ich schau nur etwas anders aus.“

Stichwort „Reinkarnation“. Aus westlicher Sicht sei es ein Zeichen von Schizophrenie, wenn sich jemand an ein früheres Leben zu erinnern glaubt. „Aber wenn es in einer Kultur Reinkarnation gibt, dann ist das nicht mehr pathologisch, sondern spirituell begründet.“ Daher Mastnaks Auftrag in China: kultursensible künstlerische Therapien zu entwickeln.

Und Alltagskultur am Beispiel Gesichtsmasken? „Wenn die Chinesen in der Getreidegasse mit Masken rumlaufen, dann haben sie teils Angst vor Erregern, die ihr Körper nicht kennt, was ja nicht ganz unsinnig ist.“ In Peking trügen die meisten Menschen auf der Straße keine Maske, auch nicht an der Beijing Normal University, einer der Elite-Unis der Volksrepublik. „Nur wenn man verkühlt ist. Man will andere nicht infizieren.“ Die Busfahrer hätten in der Regel Masken auf, „weil's mit der Luftverschmutzung schlimm ist“.

Chinesen hätten es nicht gern, wenn man ihnen mit dem Gesicht zu nahe kommt. Ganz feine Abstufungen gebe es hinsichtlich der persönlichen Nähe und des Körperkontakts, „eine Breite von Grußformen, mit denen man signalisiert, wo ist unsere Position in der Kommunikation“.

Eine Gepflogenheit ist es, während eines Meetings zum Essen hochprozentige Schnäpse zu kippen. Da heißt es bis zu zehn Mal: „Gan bei.“ Sinngemäß „Trocken das Glas“. Da muss man durch. Wenn schließlich jemand vom Schlaf übermannt wird, gelte das keineswegs als Fauxpas. „Das kommt auch bei hochkarätigen Treffen vor. Aber das nachher zu erwähnen, das wäre die Katastrophe...“

Ist es ein westliches Vorurteil, dass Chinesen niemals direkte Kritik üben, sondern Dissens nur indirekt erkennen lassen? Da sei „schon ein bisserl was dran.“ Im professionellen Alltag, etwa an der Uni, sei die Kommunikation ganz offen, auch was differenzierte Kritik anbelangt. „Aber es stimmt schon: Chinesen sagen nicht, dass sie nicht kommen. Sie kommen einfach nicht.“

Wie lernt ein Europäer solche Nuancen zu unterscheiden? Er sei privilegiert gewesen, schildert Lao Ma. Er hatte über Jahre zunächst in Shanghai eine persönliche Assistentin, die ihn sprachlich wie sozial gecoacht habe, beruflich, wie gesellschaftlich. „Das war meine Eintrittskarte in wirkliche Integration in China.“ Dazu gehören scheinbar einfache Essensregeln (man müsse von allem nehmen, was auf dem Tisch ist), aber auch differenzierte Höflichkeitsformeln oder sprachliche Phrasen für Männer, Frauen und neutrale Anrede: „Damit kann man sehr viel signalisieren. Aber das schlägt natürlich erst durch, wenn man die Sprache wirklich gut beherrscht.“ Entscheidend also für seine Integration: „Dass man mit mir vor chinesischem Kulturhintergrund reden kann.“

„Nach viel Stuckerei“ habe er, der längst auf Chinesisch lehrt, seine Vorträge zunächst gebüffelt, „wie ein Schauspieler seinen Text lernt“. Die Assistentinnen seien im Hörsaal gesessen und „haben den Kopf geschüttelt, wenn was falsch war“.

Ein Kollege von Mastnak ist Professor Wang Yiwen. „Wir sind die beiden Direktoren des Forschungszentrums.“ Wang zitiere in seinen E-Mails oft Sprichwörter und alte chinesische Lyrik, „um Stimmungen wie Hoffnung und Zuversicht auszudrücken“, erzählt Wolfgang Mastnak, der derzeit im homeoffice in München arbeitet. Wang Yiwen habe in der Corona-Zeit in einem Mail zitiert In der Wärme des Frühlings beginnen die Blumen wieder zu sprießen. „Hoffnung kann man in China kaum besser ausdrücken.“

Bilder: Beijing Normal University/Xin Pan (1); privat/Mao (1); Shanghai 10th People's Hospital/Ping He (1)