Erfrieren und Verrecken

REST DER WELT / ZÜRICH / OPERNHAUS

22/10/19 Das Opernhaus Zürich zeigt als Schweizer Erstaufführung Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern. Ballettchef Christian Spuck fügt der Musik mit seiner Choreografie eine zusätzliche Ebene hinzu changierend zwischen Realismus und Abstraktion.

Von Oliver Schneider

Eine braun-schwarze, wie verkohlt wirkende Wand auf der Bühne empfängt den Zuschauer. Zum Choralvorspiel O du fröhliche wird die Wand zurückgefahren, und drei schwarz gekleidete Paare eröffnen den Abend mit ihrem Tanz. Die Wand. Die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, die Kraft aus dem Boden aufnehmen und zugleich schweben zu scheinen. Dazu der ironisierende Titel des ersten Bildes stehen für das Ereignis, an das Lachenmann erinnert: Gemeinsam mit Andreas Baader steckte die aus dem Schwäbischen stammende Pastorentochter Gudrun Ensslin 1968 ein Frankfurter Kaufhaus in Brand. - Die erste Gewalttat der aus der 68er Bewegung hervorgegangen Rote-Armee-Fraktion, die die alte Bundesrepublik Deutschland im folgenden Jahrzehnt mit Bluttaten in Atem hielt.

Lachenmann verbindet in seiner 1997 in Hamburg in der Intendanz von Peter Ruzicka uraufgeführten Musik mit Bildern deutsche Zeitgeschichte mit dem ebenso traurigen Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen. Ein kleines Mädchen wird von ihren bedürftigen Eltern barhäuptig und ohne Schuhe in der Silvesternacht auf die schneebedeckte Straße geschickt, um Schwefelhölzer zu verkaufen.

Die warm angezogenen Damen und Herren in langen Mänteln und mit Hüten im Stil der Entstehungszeit des Märchens (Kostüme: Emma Ryott) gehen achtlos an dem frierenden Mädchen vorbei, das Ballettchef Christian Spuck verdoppelt (Emma Antrobus, Michelle Willems): Damit entsteht eine Parallele zur Musik für zwei Soprane (Alina Adamski, Yuko Kakuta) sowie zur Geschichte Gudrun Ensslins, mit der Lachenmann eine ähnliche Herkunft verbindet.

Das Mädchen geht an der menschlichen Kälte seiner Umwelt zu Grunde: Es erfriert, nachdem es alle Schwefelhölzer für kurze Momente mit Wärme und Licht angezündet hat. Immer wieder schneit es symbolisch, in einem Video versinkt eine Stadt sogar förmlich im Schnee (Video-Design: Tieni Burkhalter). Die Tänzerinnen und Tänzer treiben die Handlung voran - und das zu vielfach zerlegten Klängen, Wischen und Klopfen, Kratzen und Knirschen mit den Instrumenten: Spucks Choreografie fügt dem Werk eine zusätzliche, spannungsvolle Verständnisebene hinzu.

Der Kältetod des Mädchens soll die Gesellschaft aufrütteln. Genau wie Gudrun Ensslin mit der Brandstiftung 1968 in Frankfurt die Gesellschaft wecken wollte. Sie – und die anderen RAF-Terroristen – glaubten, das restaurative bundesrepublikanische System nur mit Gewalt aufrütteln zu können. Der Frankfurter Kaufhausbrand wird als Video eingeblendet.

Matthias Hermann, der in Salzburg für die Einstudierung verantwortlich war, steht in Zürich selbst am Pult und hat die Zügel auf der Bühne, im Graben, in den Proszeniumslogen und auf der Seite im zweiten Rang – dort sind Instrumentalisten und die in diesem Repertoire erfahrenen Basler Madrigalisten (Einstudierung: Raphael Immoos) verteilt – fest im Griff.

Für die Tänzer und Musizierenden wird dieser Lachenmann eine Herausforderung bei der Einstudierung gewesen sein, in der Aufführung merkt man davon nichts. Eine großartige Leistung! Beim Publikum merkt man hingegen schon, dass es an serielle Musik nicht gewöhnt ist. Die zweistündige, pausenlose Aufführung überfordert den ein oder anderen Besucher. Wenige gehen geräuschvoll raus, andere husten dafür umso mehr. Einige Eltern mit ihren Kindern haben sich in der besuchten Vorstellung am letzten Freitag wohl etwas anderes erwartet. Möglicherweise war einigen auch die (deutsche) Zeitgeschichte zu wenig oder nicht mehr präsent.

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern - weitere Vorstellungen im Opernhaus Zürich am 25., 27. und 31. Oktober sowie am 1., 10. und 14. November - www.opernhaus.ch
Bilder: Opernhaus Zürich / Gregory Batardon