ZÜRICH / OPER / DIE TOTE STADT

30/04/25 Dmitri Tcherniakov denkt Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt weiter und macht den um seine verstorbene Frau trauernden Paul zu einem Mörder. Das Opernhaus Zürich zeigt Korngolds größten Bühnenerfolg seit Ostermontag in einer Neuinszenierung.

Von oliver Schneider

Als ob es nicht schon genug wäre, wie Vater Julius und Sohn Erich Wolfgang Georges Rodenbachs Erzählung Bruges la morte zu einem Opernkrimi zugespitzt haben, geht Dmitri Tcherniakov in seiner vierten Zürcher Inszenierung noch einen Schritt weiter. Pauls 25 Jahre jüngere Ehefrau Marie ist gestorben. Der Witwer zieht sich in ein Trauer-Schneckenhaus zurück, macht seine Wohnung zu einer Kapelle für die Verstorbene. Bei Tcherniakov ist der Tod Maries eine mysteriöse Geschichte. Der Regisseur lässt Ausschnitte aus Fjodor Dostojewskis Erzählungen Die Sanfte und Aufzeichnungen aus einem Kellerloch zu Beginn rezitieren. Diese texte lassen darauf schließen, dass Marie keines natürlichen Todes gestorben ist.

Paul ist nicht einfach ein trauernder Mensch, der sich von der Vergangenheit nicht lösen kann, sondern jemand, der psychische Hilfe braucht. Seine Probleme löst er letztendlich mit Gewalt, wenn er nicht mehr weiter weiß. Gemäss Libretto würde Paul in Marietta einer Frau begegnen, die seiner verstorbenen Ehefrau ähnelt und auf die er alle seine Erinnerungen projiziert. Bei Tcherniakov begegnet Paul mehreren Frauen, denen er versucht, ihre Rolle als Marie-Ersatz aufzuzwingen. Eine Ähnlichkeit mit Marie haben die drei Mariettas nicht.

Spätestens, als Paul versucht, zu verhindern, dass Marietta 3 auf den Balkon oder ans Fenster tritt, damit das Bild von ihm als Trauerndem um Marie keinen Kratzer erhält, muss die Frau erkennen, dass sie sich von diesem Mann rasch trennen muss. Doch es ist zu spät. Paul, der zeitweise als Bischof verkleidet in der für Marie errichteten Kapelle in seiner Wohnung in einem tristen Wohnblock die Messe liest oder sonst eine pseudogeistliche Handlung vollzieht, erdrosselt Marietta 3 real. Es ist kein böser Traum, aus dem Paul in Korngolds Original aufwacht, um sich definitiv von der Vergangenheit zu befreien.

Tcherniakov hat einmal mehr eine hochspannende, ganz aus der Psyche der Protagonisten abgeleitete Regie entwickelt, die in sich schlüssig ist. Wäre da nicht die Musik von Erich Wolfgang Korngold, die nach der Tötung von Marietta etwas anderes aussagt, als in Zürich gezeigt wird. Korngold hat die Loslösung Pauls von seiner Obsession auskomponiert, aber nicht die Gefühle eines Mörders. Tcherniakov schien der Plot für den heutigen Zuschauer zu wenig fordernd, um ihn aus der Komfortzone zu locken, weshalb er die Handlung weiterentwickelt und sich vom morbiden Brügge gelöst hat.

Am Pult der Philharmonie Zürich, die sich in wenigen Monaten wieder Orchester des Opernhauses Zürich nennen darf, steht Lorenzo Viotti. Ihm liegt die auf Puccini, Richard Strauss und Wagner aufbauende Musik im Blut. Dank der herausgearbeiteten dynamischen Kontraste und Schärfen im Orchester im zweiten und vor allem im dritten Bild wird der Abend zu einem Musik-Thriller.

Wer so eine Musik komponiert, musste nach dem zwangsweisen Verlassen Wiens in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Karriere als Filmkomponist in Hollywood beschieden sein. Viotti weiß aber auch, dass das Werk vor allem für die Protagonisten Pauls und Mariettas heldische Herausforderungen enthält. Eric Cutler bewältigt sie in seinem Rollendebüt hervorragend. Ihm gelingt darstellerisch das Porträt eines Psychopathen, dem man nicht auf der Straße begegnen möchte. Stimmlich überzeugt er ebenso, weil er nicht nur die nötige Durchschlagskraft besitzt, um das trotz Viottis Zügelung immer noch mächtige Orchester mühelos und textverständlich zu überstimmen.

Vida Mikneviciūté gibt die Marietta mit kräftigem und ausdrucksvollem Sopran. Nicht nur in seiner wohligen Arie Mein Sehnen, mein Wähnen, die es auch in Wunschkonzerte schafft, kann Björn Bürger als Pauls Freund Frank respektive Pierrot Fritz punkten. Die Besetzung der Haushälterin Brigitta bringt eine Wiederbegegnung mit Evelyn Herlitzius, die gut darum bemüht ist, ihr Vibrato zu kontrollieren.

Nach dem Abend in Zürich fragt man sich einmal mehr, warum es Korngolds Erstling doch verhältnismäßig selten auf die großen Bühnen schafft. Der Applaus des Publikums sprach in der besuchten zweiten Vorstellung für ein häufigeres Wiedersehen.

Vorstellungen bis 1. Juni 2025 – www.opernhaus.ch
Bilder: Opernhaus Zürich / Monika Rittershaus