OPER GENF / LA TRAVIATA
20/06/25 Eine Frau im mittleren Alter sitzt schwer atmend mit Sauerstoff-Gerät inmitten eines heruntergekommenen Saals. Museum, Spital, Schalterhalle oder protzige Villa? Jetzt ist es die Endstation Sehnsucht einer Sterbenden: Die Frau ist die schwer kranke Kurtisane Violetta Valéry, die sich in ihren letzten Stunden an die traurigen Etappen ihres Lebens erinnert.
Von Oliver Schneider
Das noch bis Ende nächster Saison von Aviel Cahn geleitete Grand Théâtre de Génève zeigt eine über weite Strecken gelungene Neuinszenierung von Giuseppe Verdis La traviata in einer Inszenierung von der vom allem im deutschsprachigen Theater bekannten Regisseurin Karin Henkel.
Für ihren Ansatz haben Karin Henkel und Dirigent Paolo Carignani der 1853 in Venedig uraufgeführten Oper einen Prolog vorangestellt, für den musikalisch neben dem Vorspiel Teile des dritten Akts erklingen. Violetta sieht noch einmal, wie ihr alkoholkranker Vater sie an einen älteren Mann (Baron Douphol) verkauft und damit ihr gesellschaftliche Abstieg einläutet und – noch schlimmer – sich selbst im Sarg. Dann erst lassen Henkel und Carignani die Oper wie mit dem Fest bei Violetta nach ihrer scheinbaren Heilung von der Schwindsucht und der schicksalhaften Begegnung mit Alfredo Germont beginnen.
Damit Violetta gleichzeitig agieren und ihr Leben im Traum nochmals abspulen kann, reicht eine Darstellerin nicht aus. In Genf hat man sich für vier Violettas entschieden: als Kind, als Kurtisane und ihr tanzendes Double sowie schließlich als kranke Frau. Die Aufsplittung geht einher mit einer Aufteilung der Gesangspartie auf zwei Sängerinnen, sodass auch die verschiedenen Stimmtypen, die man eigentlich brauchen würde, um alle Fassetten der Partie zu erfüllen, gut abgedeckt werden können.
Martina Russomanno ist die rückblickende, reife Frau mit farblich malender, fülliger und ins Dramatische drängender Stimme, die auch immer wieder selbst agierend und singend versucht, ihr Schicksal aufzuhalten. Ruzan Mantashyan gibt die erst geliebte, dann erniedrigte Kurtisane als junge schöne Frau mit klangvollen, fein schattierenden Legatolinien und einer schlackenlosen koloraturgespickten Schlussarie mit Stretta am Ende des ersten Akts. Sabine Molenaar zeigt mit schon beim Betrachten Schmerz auslösender Körpersprache, wie sehr Violetta leidet. Und schließlich darf auch das Kind Violetta mehrmals am Mikrofon sprechend oder summend ins Geschehen eingreifen.
Enea Scalas Alfredo ist der seine Gefühle auslebende Mann, dem Violetta verfallen ist. Mal heißblütig liebend, dann wieder krankhaft eifersüchtig, hasserfüllt und nach Rache sinnend und sich nicht im Griff habend. Er punktet trotz eines nicht sehr farbenreichen Tenors mit dem Schmelz in seiner Stimme und fühlt sich vor allem ab einem kraftfordernden Mezzoforte wohl. Alternierend ist die Partie mit Julien Behr besetzt. Luca Micheletti ist ein im Landhaus Violettas hartherziger, egoistischer, nur auf das Familienwohl und seinen eigenen Ruf bedachte Machtmensch, der aber gleichwohl den Aufopferungswillen Violettas von Anfang an erkennt. Sein Durchsetzungswille ist es, der Violettas Schicksal endgültig besiegelt, aber auch seinen Sohn auf dem Fest bei Flora zur Räson bringt. Mit seinem sonor-gravitätischen Bariton macht er sein Di Provenza, il mar, il suol zu einem Höhepunkt des Abends.
Das Kostümfest bei Flora funktioniert Henkel zu einer Boxkampf-Arena um, was – wie manch weitere Nebenaktivität – eher vom Wesentlichen ablenkt. Viel mehr hätte man sich zum Beispiel gewünscht, dass sich der in verzerrenden Kostümen gekleidete Chor nicht einfach nur von vorne nach hinten und links nach rechts geht (sehr gut vorbereitet von Mark Biggins) und mit ihm gearbeitet worden wäre. Tableaux vivants erinnern daran, dass wir uns in Violettas Traumwelt befinden. Stark greifen Henkel und Carignani nochmals in den letzten Akt ein und gönnen Violetta die Versöhnung vor dem Tod mit Alfredo und seinem Vater nicht. Sie stirbt verlassen, nur noch von ihrer alten Dienerin Annina begleitet in ihrem trostlosen Heim, so wie es Alexandre Dumas in seinem Roman erzählt. Die Versöhnung bei Verdi erlebt man in Genf nur als Theaterspiel, dem die „Freunde“ Violettas zuschauen dürfen.
Die Musik und das Geschehen auf der Bühne sind in dieser Neuinszenierung perfekt aufeinander abgestimmt. Nicht nur, dass Paolo Carignani zum zusätzlichen Prolog, Umstellungen im dritten Akt und Wiederholungen Hand geboten hat. Jeder Handlungsmoment auf der Bühne wird im Orchester und umgekehrt reflektiert. Manchmal kommt das Orchester fast zum Stillstand, gleitet in kaum noch hörbares Piano, an anderen Stellen geht es in die rasende Gegenrichtung. Die Musikerinnen und Musiker des Orchestre de la Suisse Romande folgen den Vorgaben von Carignani mit präzisem und akkuratem Spiel. Insgesamt haben alle Beteiligten zu einem spannenden und abgerundetem Abend beigetragen, den das Genfer Publikum mit lange anhaltendem Applaus gefeiert hat.
La Traviata – weitere Vorstellungen im Grand Théâtre de Génève bis 27. Juni – www.gtg.ch
Bilder: GTG / Carole Parodi