Nach zwei Jahren schon in die Jahre gekommen

GRAZ / DRITTE REPUBLIK

14/09/20 War es nicht das Allererste in diesem März, dass sich die europäischen Staaten ihrer Grenzen erinnert und sie diese dicht gemacht haben? Haben wir nicht gerade vorgeführt bekommen, was der Traum von allezeit offenen Grenzen wert ist, wenn's ernst wird? Ein Stück, das ums Ziehen von Grenzen kreist, könnte, müsste also eines der Stunde sein.

Von Reinhard Kriechbaum

Die Nagelprobe im Grazer Schauspielhaus gilt Thomas Köcks dritte republik (eine vermessung), vor zwei Jahren im Hamburger Thalia Theater uraufgeführt. Die Sache geht unerwartet schlecht aus für diesen Theatertext.

Da sitzt eine Dame in einem Schneehaufen, fibbernd, und weiß nicht wie ihr geschieht. Nicht vor und zurück weiß sie, und vor allem nicht wohin mit ihren fünf Kartonkoffern. Anzughose und Gilet sind eindeutig die falsche Kleidung für die Gegend das Klima. Wie Väterchen Frost persönlich taucht der Kutscher (ohne Kutsche) auf. Wallender Bart und wallender Pelzmantel. Die beiden werden ein sehr ungleiches, schon vom optischen Kontrast her komisches Paar abgeben, wenn sich die Rückwand der hölzernen Guckkastenbühne hebt und sie sich holpernden Schritts über eine karge Felsenlandschaft machen auf einen Weg ins Nirgendwohin.

Aufgehalten werden sie ja auch: zum Beispiel von der blinden Fallschirmspringerin, die sich in einem Baum verfangen hat, den es real gar nicht gibt auf der Bühne. Die hat schon alles gesehen zwischen und über den Grenzen, und das war durchwegs nichts Gutes. Diese Allegorie des blinden Sehers weiß: So ein Krieg hat kein Ende, ist nur aufgeschoben. „Frieden durch Grenzen, das klingt logisch“, sagt sie mit einem ordentlichen Schuss Ironie in der Stimme. Und sie kalauert: „Nationen sind die irrwitzigsten Fiktionen.“

Der aus Oberösterreich stammende Thomas Köck borgte den Stücktitel dritte republik bei Jörg Haider, dem Ur-Populisten. Der schaut mit seinen Vorstellungen vom illiberalen Überschreiten der festgeschriebenen Verfassungsgrenzen freilich schon ziemlich alt aus angesichts des Faktischen von Orban bis Trump. Der Autor lässt sein Stück am Ende des Ersten Weltkriegs spielen. Grenzen sind neu zu vermessen und einzurichten. Das ist die Aufgabe der Dame mit den vielen Koffern, die wohl proppenvoll sind mit einschlägigem geodätischem Gerät. Die meisten bleiben zu.

Diese kafkaeske Welt – der Landvermesser aus Kafkas Schloß ist ein direkter Bezug – kolorieren Regisseurin Anita Vulesica und ihr Team in Graz mit Lust und Hingabe. Der Bühnenbildnerin Anna Brandstätter und dem fürs Licht zuständigen Thomas Trummer gelingen tolle Bilder vom Ausgesetzt-Sein in einer Nicht-Landschaft, vom grenzenlosen Sich-Verlieren im engst begrenzten Raum.

Katrija Lehmann als Landvermesserin läuft beständig jemandem in die Arme und doch immer ins Leere. Evamaria Salcher als blinde Fallschirmspringerin setzt absurd-präzise einen Schritt um den anderen am unwirtlichen Fels. Der Patient (Lukas Walcher), der dem Normgewicht und dem optimalen Body-Maßindex nachhechelt, ist zu einem Halb-Saurier mutiert. Und der in einer Krinoline aus Tauen tänzelnde Reeder (Frieder Langenberger) wirkt mit seinem kleinen Schiffsmodell in der üppigen Perücke wie einem Barockgemälde entsprungen. Der Kutscher (Werner Strenger) ist das Sinnbild für ziellose Fortbewegung.

Sie alle haben ganz viel zu sagen über Nationalstaat und Grenze und über die offensichtliche Sinnlosigkeit und zugleich Unvermeidbarkeit von beidem. Im guten Fall etwas Pointiertes, viel zu oft sind es aber die Textfläche ziemlich arg strapazierende Stehsätze. Die sind auch mit viel Betriebsamkeit nicht leicht wegzuspielen.

Das Stück verlangt nach einem Sprechchor, und den hat man ob Corona von der Bühne ver- und auf ein Video gebannt. Dieser Chor – die vermeintlichen „Gehilfen“ der Grenzvermesserin, in Wirklichkeit die Vorantreiber des Grenzziehens – tritt als ferngesteuert wirkendes Monster in Erscheinung.

Fazit nach der Österreichischen Erstaufführung: Nach Monaten mit tatsächlich geschlossenen, zumindest kontrollierten Grenzen ist das Thema tagespolitisch und medial hinlänglich durchdekliniert. Da müsste ein Theatertext schon entschiedener dagegenhalten als mit einer Ansammlung von Aphorismen. dritte republik (eine vermessung) wirkt von der Gegenwart überrollt. Zwei Jahre alt erst, und schon so in die Jahre gekommen...

Aufführungen bis 12. November – www.schauspielhaus-graz.at
Bilder: Schauspielhaus Graz / Lex Karelly