Alle sind sie im Gefängnis

GRAZ / DON GIOVANNI

11/11/10 Das "Lieto fine", das fröhliche Final-Sextett kommt vom Band. Und es kommt nicht am Ende, nachdem Don Giovanni in die Hölle gefahren ist für seine Weibergeschichten, sondern gleich am Beginn der Aufführung. Wie Untote sitzen sie da, die übrig Gebliebenen, die dem Unhold zeitweise auch sehr hold waren.

Von Reinhard Kriechbaum

altRegisseur Johannes Erath erzählt uns in der Grazer Oper eigenwillige, auch abstoßende Geschichten um verschüttete sexuelle Sehnsüchte, um Kollisionen zwischen der Moral und dem Wollen. Gleich vorweg: Musikalisch bekommt man einen solchen "Don Giovanni", wie ihn die Grazer Oper jetzt anbietet, bald einmal wo zu hören. Aber szenisch erlebt man Mozarts Oper nicht so schnell ähnlich spannend. Manches mag in dieser Deutung aufgesetzt wirken, manches schon fast kindisch-provozierend (als Standbild des Komturs muss kurzerhand eine Klomuschel her halten) - in Summe ist es eine analytisch präzis gedachte, in den Figuren sehr genau gezeichnete Aufführung, die starke Sogwirkung entwickelt.

In einen Gefängnistrakt haben der Regisseur und sein Bühnenbildner Stefan Heinrichs alle Handelnden verbannt. Es sind wesentlich mehr Leute um die Wege, als das Libretto vorschreibt. Bräute allenthalben, und auch Männer. Lasziver ist es vermutlich noch auf keiner "Don Giovanni"-Bühne hergegangen, immer treibt's irgendwer irgendwo. Weil die Zellen nur durch Gitter abgeschlossen sind, altweil sich das Meiste auf den metallenen Umgängen und auf der Treppe abspielt, sind irgendwie immer alle zugegen. Aber sie sehen nicht, weil sie gar nicht sehen wollen: Der Eros, dem die Damen erliegen und der sie zu Marionetten der unterbewussten Triebe macht, lässt sie wie willenlos durch die Szene taumeln. Die Männer haben auch nur das Eine im Kopf.

Die Hauptrolle ist in dieser Umgebung eigentlich nur Katalysator und gar nicht "Titelheld". Das stimmt im Fall von Boaz Daniel leider auch in der musikalischen Ausstrahlung. Das Premierenpublikum am Samstag hat durchaus gerecht reagiert, als es ihm die sonst großzügig gespendeten Bravo-Rufe verweigerte. Gerade im Mandolinen-Ständchen fürchtete man kurzzeitig ums stimmliche Überleben.

Über das solide Maß hinaus reicht in dem Ensemble nur der Tenor Antonio Poli (Don Ottavio). Diese Figur hat der Regisseur mit einem dramaturgischen Kniff aufgewertet: Keine Höllenfahrt, sondern am Ende greift Don Ottavio zum Revolver und erschießt Don Giovanni, der sich alle Damen hat im Wortsinn „auftischen“ lassen. Und dann erst singt Ottavio die bis dahin aufgesparte Arie "Dalla sua pace" (sonst im ersten Akt), die nicht nur einen Kulminationspunkt, sondern in dieser Version auch den Schlusspunkt der Oper bildet.

Hendrik Vestmann dirigiert mit präzisen Vorstellungen, die auf geradezu Harnoncourt-artige langsame Tempi hinauslaufen. Da sind viele aufmerksam formulierte Details im Orchester möglich. Der dramatische Zugriff, der lange Bogen ist dann aber Vestmanns Sache weniger. Schon in der altOuvertüre nicht. Mag sein, dass mit der Vertrautheit noch mehr Drive hineinkommt, und dass dann auch die übrigen Sänger profitieren. Margareta Klobucar (Donna Anna), Gal James (Donna Elvira) wirkten gestalterisch noch tastend. Die profilierteste Frauenfigur gibt Siegrid Feldhofer als Zerlina. Alik Abdukayumov (Leoporello), Wilfried Zelinka (Masetto) und der mit mächtigem elektronischem Hall umwaberte Konstantin Sfiris (Komtur) halten einen ordentlichen Level.

A propos Komtur: Der hat sich mit Kopfschuss selbst ums Leben gebracht, und auch ihn hat der Regisseur in die Riege derer gerückt, die ihr sexuelles Binkerl mit sich tragen. Er ist also einer jener Freud'schen Psycho-Zombies, in denen allen ein Stück Don Giovanni steckt. Dessen Pech, dass er als "Bösewicht" gleichsam personalisiert wird. So bekommt das Bühnenbild gleich nochmal seine Legitimation: Nicht nur alle sind gefangen in ihren eigenen Wünschen, sondern letztlich sitzen sie nach dem exzessiven Umgang mit Don Giovanni auch aus gutem Grund ein.

Aufführungen bis 10. März 2011 - www.theater-graz.com
Bilder: Bühnen Graz / Werner Kmetitsch