Überlebenstraining im Burgtheater

REST DER WELT / WIEN / ROBINSON CRUSOE

23/04/12 Der Schiffbruch hat sich sehen lassen, im Gewitter der Stroboskop-Blitze. Jetzt taucht Robinson Crusoe auf, wie Gott ihn schuf. Grob geschätzt zwischen 14. und 17. Reihe Parkett ist er gestrandet, im Zuschauerraum des Burgtheaters.

Von Reinhard Kriechbaum

Nackt fühlt man sich dort unwohl, auch wenn das hochkulturelle Eiland unbewohnt scheint. Ein Stück Theatersamt ist rasch von einem der Stühle heruntergerissen und damit die allerärgste Blöße bedeckt. Recht verlegen hockt Robinson auf der Brüstung einer der Logen. Seine Not-Einkleidung wird an diesem Abend nicht die einzige Attacke bleiben auf die Ausstattung im ehrwürdigen Haus am Ring.

Daniel Defoes Romantext steht zur Disposition und überraschenderweise die Frage, wie es sich so überlebt im Theater. Nein, nicht auf der Bühne, das wäre keine Hexerei. Der Zuschauerraum ist die wahre Herausforderung! Dort lässt Regisseur Jan Bosse seine Dramatisierung spielen, während sich die Publikumsreihen tief in den Bühnenraum hineinziehen. Wir schauen also ins Parkett und beobachten Robinson beim Nahkampf mit der Materie.

Anfangs kann er Panik und Desorientiertheit nur schwer verbergen. Wie Joachim Meyerhoff als Titelrollenträger herumwuselt zwischen Logen und Stuhlreihen, kommt einem Otto Waalkes in den Sinn. Aber dieser Robinson, ein durch und durch kultivierter Mensch, wächst rasch an der Wildnis aus Plüsch, Samt und Brokat. Das erste Verkosten eines indigenen Produkts – es ist der Füllstoff eines Klappsessels – bewährt sich nicht. Dafür sichert ein Stück Vorhangstoff aus einer Loge dem Auftreten sogleich eine gewisse Würde.

Zwischendurch müssen noch ein paar Sessel dran glauben, zwei Brüstungsgeländer vom Stehplatz, ein Flügel der hintersten Parketttür, ein paar Kordeln und, nicht zu vergessen, ein längeres Stück roter Teppich. Der Flurschaden ist gewaltig, so lange bis Robinson sich selbst und seiner Insel eine ordentliche Verfassung gibt: „Das oberste Gebot der Insel Speranza: Denkmalschutz!“ Spricht’s, und krönt sich mit einem flugs aus der Wand gerissenen Kristallleuchter.

Theatertischler, Elektriker und Requisiteure sind stark gefordert. Wenn die Aufführung auch mit bloß zwei Darstellern auskommt (der zweite ist Ignaz Kirchner, erst als Robinsons Vater, dann als Freitag), dürfte die Kostenersparnis nicht gar groß ausfallen.

Jan Bosses „Projekt einer Insel“ ist ein durch und durch theater-genuines. Freitag lernt als erstes gediegene Vokabel wie „Klapppolsterreihe“ oder „Stuhllehne mit Nußbaumapplikation“. Man weiß ja nicht, wofür es mal gut ist. Später wird Freitag seinen Herrn gelegentlich mit der vorlauten Frage nerven: „Hat es eine Pause?“ Wenn Freitag beim Kannibalismus ertappt wird, gibt’s kein Pardon: Ab ins Stehparterre!

Bosse zeigt uns einerseits ein überdrehtes Verkleidungs- und Requisitenspiel zum Totlachen – und liefert zugleich eine tendenziell arglistige Abrechnung mit dem bildungsbürgerlichen Kulturverständnis. Es ist ein rechtes Theater, wenn Freitag hinaufgehoben, emporgezogen wird auf Robinsons kulturelle Höhen. Da hat er viel zu tun, Joachim Meyerhoff gibt eine pralle Theaterfigur von nicht erlahmender Energie. Ignaz Kirchner setzt gerne ein Pokerface auf und parodiert brillant als ultra-leiser, nur scheinbar demütiger „Wilder“. Robinson legt sein Bekehrungswerk gründlich an, und die Religion bleibt nicht außen vor. Da wird’s dann aber sogar dem geduldigen Freitag zu bunt und er will partout nicht begreifen, warum der allmächtige Gott den Teufel einfach so gewähren lässt. Rasch kommt Robinson in Erklärungsnotstand.

Für wen mag eigentlich so eine Robinson’sche bildungsbürgerliche Plüschtheaterinsel gut sein? Jan Bosse legt uns da eine gar verdächtige Fährte, denn am Beginn muss sich der arme junge Robinson eine gewaltige Standpauke anhören von seinem Vater, der ihm die Segnungen eines Lebens im „gehobenen Mittelstand“ einzubläuen trachtet. Dort und nur dort seien Frieden, Sicherheit, Glück und Gesundheit zu Hause. Wahrscheinlich auch ein Premierenabonnement, aber das unterschlägt der alte Crusoe seinem Sohn, den es partout hinauszieht aufs Meer. Manche Lebenserfahrung muss man halt selbst machen, sorry.

Aufführungen bis 25. Mai - www.burgtheater.at
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