WIEN / ALBERTINA / DIE WIENER BOHÈME

02/10/25 Wenn die „Farbenscherze“ unterwegs waren, dann trafen sie sich mit Vorliebe im Café Sperl oder im Blauen Freihaus – beides eine Art Wohnzimmer für eine Gruppe von Menschen, die sich zum Zeichnen und Malen berufen fühlten. Als Hagengesellschaft sind sie in die Kunstgeschichte Wiens eingegangen.

Von Reinhard Kriechbaum

So richtig ernst genommen haben sie sich selbst nicht, und ernst genommen wurden sie erst recht später nicht, als mit Secession und Hagenbund Künstlervereinigungen entstanden waren, die nun tatsächlich Kunstgeschichte schrieben. Aber solch singuläre Entwicklungen entstehen eben nicht im luftleeren Raum. Die Schau Die Wiener Bohème in der Albertina bietet die Gelegenheit, ein wenig in dieses Umfeld zwischen 1880 und 1900 zu schauen.

Warum eigentlich Hagengesellschaft? Der Wirt vom Blauen Freihaus hieß Josef Haagen. Ein Buchstabe ist dann unterschlagen worden. Ein Künstler-Verein im eigentlichen Sinn waren sie nie, aber eine Gruppe aus unterschiedlichsten Berufen – Künstler, Architekten, Musiker, Komponisten, Forscher, Journalisten und Beamte. Zwischen fünfzig und hundert Leute kamen da zusammen. Nicht alle waren Genies in ihrem Metier, aber es verband sie ein wacher Geist der Moderne gegenüber.

Gar lustig muss es zugegangen sein, wenn sich die Herren in einem ihrer Stammlokale trafen. Davon zeugen Dutzende Blätter, in denen sich diese komischen Vögel gegenseitig verulkten. Karikaturen zuhauf! Es finden sich aber auch stimmungsvolle Kaffeehausszenen, etwa von Johann Victor Krämer oder Sigmund Walter Hampel, die gut die Stimmung in solchen Lokalen transportieren. Wir sehen mondänen Damen beim Plausch und echte „Bohèmiens“, die schon mal ein Nickerchen hier machten. Ihnen diente, weil sie eh immer zugegen waren, das Café Sperl als Wohnungsersatz. Einer notierte etwas boshaft über einen Künstlerfreund: „Gearbeitet hat Reisinger wohl nur wenig und auch da nur im Geheimen...“

In froher Runde hat man im Sperl anfangs direkt auf Marmortische gezeichnet. Das wurde wieder weggewischt. 1888 brachte der Maler Ernst Stöhr Papier mit. Ab da wurden die Blätter aufbewahrt. Der Cafetier stellte eine Mappe bereit. Bis 1905 waren auf diese Weise über achthundert Arbeiten zusammengekommen, Zeichnungen und Aquarelle. Dieses Konvolut hat man damals – durchaus selbstbewusst – der Albertina überantwortet. Aus dem Schatz speist sich die aktuelle Schau.

Die Künstler der Hagengesellschaft, ausschließlich Männer, waren befreundet oder gar miteinander verschwägert, jedenfalls gut vernetzt. Josef Engelhart war der Schwager von Kolo Moser, Ferdinand Schirnböck verschwägert mit Paul Wittgenstein, Gustav Frank ein Cousin von Gustav Mahler. Man wusste also und nahm mit wachen Sinnen auf, was an künstlerischen Ideen rundum gärte. Und man hat sich selbst höchst kreativ eingebracht.

Es waren nicht nur Schöngeister in dem Kreis von Individualisten. Eduard Apfelbeck zum Beispiel war Techniker und Erfinder, er verfeinerte Rechenschieber und das Aristo-Dreieck. Er galt den Freunden als „Jules Verne des Café Sperl“. Friedrich König hat ihn in einer Karikatur als Uhu auf einen Ast gesetzt.

Von Alfred Roller stammt eine Karikatur, die zwei Hagengesellschftler beim Schachspielen zeigt. Bärbeissiger Humor war ein starker verbindender Moment dieser Gruppe, deren gegenseitige Bildnisse ein heiteres Bestiarium der Sonderklasse zeigen.

Viele unbekannte Namen begegnen einem, aber auch ein paar später Prominente. Der Bühnenbildner Alfred Roller gehörte ebenso zur Hagengesellschaft wie der slowenische Architekt Josef Plecnik. Manches von den Kaffeehaustischen der Hagengesellschaft landete in der 1898 gegründeten Zeitschrift Ver Sacrum, über fünfzig Werke wurden dort publiziert, sogar auf Titelseiten. Man kann also durchaus sagen, dass manche dieser Gruppe das Erscheinungsbild des Wiener Jugendstils mitgeprägt haben.

1893 wurde die Secession gegründet. Da war eine ganze Reihe Hagengesellschafts-Künstler an Bord, etwa Adolf Boehm, Ernst Stöhr oder Rudolf Bacher, der zwei Mal Secessions-Präsident war. Andere aus der Hagengesellschaft fanden allerdings keine Aufnahme, sie gründeten daraufhin 1900 den Hagebund, die zweite tragende Institution der Moderne in Wien. Zwischen Secession und Hagebund gab es schließlich mehr Verbindendes als Konkurrenz.

Bis 12. Oktober 2025 – www.albertina.at
Bilder: dpk-krie