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Einblick in eine private musikalische Oase

IM WORTLAUT / ERINNERUNG AN SÁNDOR VÉGH

07/08/12 Am vergangenen Wochenende gab es bei den Festspielen einige Meisterklassen mit Künstlern, die bei dem legendären, 1972 von Sándor Végh gegründeten International Musicians Seminar Prussia Cove in England unterrichten. Zu diesem Grüppchen von Instrumentalisten rechnet auch der Cellist Steven Isserlis, der sich hier an den vor hundert Jahren geborenen Sándor Végh erinnert.

Von Steven Isserlis

Ich war sechzehn, als ich zum ersten Mal das International Musicians Seminar in Prussia Cove, Cornwall, am südwestlichen Zipfel Englands besuchte. Ich hatte eine Menge Geschichten über den Gründer des Seminars, den großen ungarischen Geiger, Lehrer und späteren Dirigenten Sándor Végh gehört – über sein erstaunliches musikalisches Können, sein furchterregendes Temperament und sein ungewöhnliches Aussehen. Aber ich war nicht vorbereitet auf den Anblick, der sich meinen müden Augen bot, als ich zu früher Morgenstunde, von meiner Nacht im Schlafwagen alles andere als frisch, bei meinem Cottage auf dem Anwesen von Prussia Cove abgesetzt wurde: Der Erste, den ich zu Gesicht bekam, war Sándor Végh höchstpersönlich, der im Pyjama Richtung Badezimmer schlenderte. Ich machte mich leise davon und hoffte, dass er mich nicht entdeckt hatte.

Nach diesem nicht gerade vielversprechenden Nichttreffen war ich jedoch – wie jeder, mit Ausnahme jener Studenten, die die Wucht seines nicht gerade seltenen Zorns zu spüren bekamen – völlig gefangen genommen von den Kursen, die ich in den folgenden zehn Tagen besuchte. Végh pflegte zu sagen, er habe eine große Tradition geerbt – er hatte nämlich bei Jenö Hubay studiert, der seinerseits mit Brahms gespielt hatte. Das stimmte zweifellos, aber die Freude, die von seinem musikalischen Können ausging, war nicht nur eine Frage von Tradition. Seine Art zu spielen, zu unterrichten, war von umwerfender Lebendigkeit. Er bestand darauf, dass jede Note ihren angemessenen Platz hat, dass Musik niemals stillsteht. Vielleicht beschäftigte ihn beim Unterrichten am meisten die Kontur – jede Phrase hat ihre Höhepunkte und ihre Tiefpunkte: Jedes Forte „hat sein Piano“, wie er es ausdrückte. All das fühlte sich so natürlich an wie Sprechen. (…)

Bis zum heutigen Tag habe ich Véghs Vortrag im Ohr, die Nuancen, die er ans Licht brachte, die Konturen und Farben – zwingend, aber völlig unerwartet –, die er in jeder Phrase entdeckte. Nach dem Seminar wurde mir klar, dass ich ungeheuer viel gelernt hatte; von nun an würde ich Musik in ganz anderem Licht betrachten.

Im Lauf der nächsten Jahre spielte ich häufig mit ihm. Es war nie einfach – ich war nicht mehr sein blauäugiger (nun gut, braunäugiger) Junge, der ich mit sechzehn gewesen war. Aber die Beziehung war, für mich jedenfalls, unglaublich fruchtbar. Es gab viele Tiefpunkte – etwa als er mich aus einer Probe warf, weil ich eine Tasse Tee mitgebracht hatte; oder der schreckliche Moment, als sich, nachdem ich ihn (im Ringen um meine Unabhängigkeit) wiederholt beschuldigt hatte, in einem Trio von Schumann im falschen Taktteil einzusetzen, herausstellte, dass ich es war, der falsch eingesetzt hatte – den Blick, den er mir daraufhin zuwarf, werde ich nie vergessen; und, am denkwürdigsten, damals, als er mir ein Glas Bier über den Kopf schüttete. Ich glaube, er hatte zufällig mitbekommen, wie ich ihn nachahmte.

Aber es gab auch viele Höhepunkte, weil er Spielweisen aufzeigte, die völlig neu und aufschlussreich waren. Das letzte Werk, das wir gemeinsam spielten, war Schumanns drittes Trio opus 110 mit András Schiff am Klavier. Végh verunsicherte mich vor unserer ersten Probe nicht wenig, als er beiläufig erwähnte, er habe das Stück das letzte Mal mit Casals gespielt. Trotzdem waren die Proben zwar (meistens) schwierig, aber immer faszinierend. Das Konzert am Ende der Woche hatte seine Pannen, und Végh machte sich Sorgen, dass es mit seinem Spiel bergab gehen könnte; es war eines seiner letzten Konzerte als Geiger. Aber András, der sich die Aufnahme nachher anhörte, erzählte mir, dass Végh trotz der Unzulänglichkeiten wunderbar geklungen und dass sein Spiel eine draufgängerische Kraft vermittelt habe, die einzigartig war. (…)

Véghs körperlicher Zugang zur Geige beruhte, wie auch sein musikalisches Können, auf vollkommen natürlichen Grundsätzen. Sein Unterricht war organisch, jedes Detail seiner unschätzbaren technischen Ratschläge war voll und ganz auf ein musikalisches Ziel ausgerichtet. Wie groß sein Vermächtnis als Lehrer ist, erkennt man an der Vielzahl seiner Schüler, die heute selbst auf der ganzen Welt auftreten oder unterrichten. Auch einige der Aufnahmen seines berühmten Végh-Quartetts sind unsterblich geworden – in einem Fall sogar in ganz wörtlichem Sinne: Die Aufnahme von Beethovens Streichquartett opus 130 wurde in der Raumsonde Voyager der NASA deponiert, als eine der exemplarischen Errungenschaften unserer Zivilisation.

Auch viele von Véghs Aufführungen mit Casals sind eindrucksvolle Zeugnisse einer großen Partnerschaft. Generell habe ich allerdings das Gefühl, dass man vielleicht persönlich dabei gewesen sein muss, um die ganze Überzeugungkraft von Véghs Spiel zu spüren. Auf Schallplatte können die Intonation (zu der er eine sehr eigenwillige Einstellung hatte) und der Verzicht auf den Schönklang als Selbstzweck die Ohren, die an den Oberflächenglanz heutiger Aufnahmen gewöhnt sind, gelegentlich stören.

Was seine Aufnahmen als Dirigent anlangt, habe ich hingegen keine solchen Bedenken. Hier – etwa in Schuberts Fünfter und Achter Symphonie – kann man sein außerordentliches Verständnis für Phrasierung und musikalische Struktur, das den Zuhörer vom ersten bis zum letzten Ton packt, unmittelbar spüren. Beim Orchester handelt es sich übrigens um jenes, dessen Chefdirigent er fast zwanzig Jahre lang war – die Salzburger Camerata. Wie hart er ihnen zugesetzt haben muss! Keine Note ist selbstverständlich, jede Phrase hat ihre einzigartige Form und Bedeutung. Da ich Véghs Methoden kenne, kann ich mir vorstellen, dass es für die Musiker nicht gerade die reine Freude war – und trotzdem hat selten ein Orchester so frisch und ungekünstelt geklungen. Es überrascht nicht, dass Carlos Kleiber Proben Véghs zu besuchen pflegte, wann immer er konnte. Als die beiden einander schließlich bei einem Abendessen, das Véghs Tochter Alja gab, kennen lernten, verstanden sie sich blendend. (…)

In der Arbeit im IMS Prussia Cove wirkt sein Einfluss unverändert stark weiter. In seinen letzten, gebrechlicheren Lebensjahren spielte er bei der Organisation eine weniger aktive Rolle. Und schließlich bat mich Hilary Behrens, jener Schüler, der den Traum seines Meisters vom Seminar in Cornwall verwirklicht hatte, mit Véghs Segen darum, die künstlerische Leitung zu übernehmen. Ich war hingerissen, dass Végh wollte, dass ich in seine Fußstapfen trat. Mir war von Anfang an bewusst, welche Verantwortung es war, ein Seminar zu übernehmen, das so vielen Musikern so viel bedeutet hatte. Unser vorherrschendes Ziel war und ist, Véghs musikalische Werte weiterzugeben – jene Werte, die er selbst von seinem Lehrer Hubay und auch von Persönlichkeiten wie Béla Bartók, Ernst von Dohnányi, Fjodor Schaljapin und Casals übernommen hatte, die alle in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten.

Natürlich muss so ein Seminar lebendig bleiben und erneuert werden. Einige der Professoren, die in jüngster Zeit dort unterrichtet haben, haben Végh nie gekannt, wie etwa der Komponist Thomas Adès. Aber die meisten unserer ständigen Dozenten sind unmittelbar von Végh geprägt. Das gilt für András Schiff, der in Véghs späteren Jahren mehr als jeder Andere mit ihm auftrat und die Ideen seines Mentors in seinem eigenen Musizieren auf wunderbare Art und Weise lebendig werden lässt; es gilt auch für den großen Komponisten György Kurtág, der die Aufführung von Beethovens Großer Fuge, die Végh bei einem der Kurse leitete, als einen der absoluten Höhepunkte seines Musikerlebens bezeichnet; es gilt für Ferenc Rados, den inspirierenden, brillanten Lehrer von Schiff, für Zoltán Kocsis und viele andere, ebenso wie für Véghs Meisterschüler Gerhard Schulz, Erich Höbarth und Thomas Riebl, und was die Celloklasse anlangt für Ralph Kirschbaum, David Waterman und mich selbst; auch wenn nicht alle von uns bei Végh studiert haben, so haben wir doch viele Male mit ihm musiziert – und das ist kein großer Unterschied. (…)

Übersetzung aus dem Englischen: Gudrun Likar / Monika Mertl
Morgen Mittwoch lassen Joshua Bell und Alina Pogostkina (Violine), Lawrence Power (Viola), Steven Isserlis (Violoncello) und Dénes Várjon (Klavier weitere Kammermusik von tschechischen Meistern hören.
Bild: SF / Silvia Lelli
Zur Besprechung {ln:Wilde Jagd durch böhmische Gefilde}

 

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