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Nackte Füße und durchgestrichene Namen

LESEPROBE / FALLWICKL / UND ALLE SO STILL

15/04/24Frauen arbeiten 98 Stunden pro Woche. Das macht sie auf Dauer krank ... gleichzeitig werden sie und ihre Schmerzen von der Medizin nicht ernstgenommen, sie müssen im Schnitt vier Jahre länger auf eine Diagnose warten als Männer. Und da finde ich es – was den Roman betrifft – verständlich, dass sie sich auf die Straße legen und sich verweigern.“ So Fallwickl. Und alle so still erscheint morgen Dienstag (16.4.)  – Hier eine Leseprobe.

Von Mareike Fallwickl

Die Gebärmutter

Sie sind von mir besessen, und das liegt daran, dass ihre Schwänze zu kurz sind. Let me explain. Sie können mich damit fast erreichen, können an mich ranbumsen und freuen sich, dass sie die Vagina ausfüllen, bis an meinen Mund. Das tut weh, und werden sie darauf hingewiesen, hören sie vielleicht auf, murmeln eine Entschuldigung und haben diese Unbefriedigung. Weil es etwas gibt im Körper, der einen Uterus hat, etwas, das verborgen ist und ein Geheimnis und der Ursprung. Sie wollen es besitzen, es beherrschen, und weil ihre Schwänze zu kurz sind, kommen sie mit Papier und Stift, mit Gesetzen und Regeln. Oder mit Religion. Ich bin die Gebärmutter, mich verbinden sie mit Weiblichkeit. Über alles, was mit mir geschieht, entscheiden Männer

Der Großteil der Menschen in den Betten schläft. Nuri achtet auf den Weg und beobachtet sie zugleich. Er betrachtet Verbände auf Köpfen, farblose Lippen, stille Hände. Er schaut sich bewegungslose Augenlider an, lange Haare, kurze, helle, dunkle, rote Haare, und wenn die Füße am unteren Ende des Betts nackt sind, deckt er sie zu.
Für die Menschen, die wach sind, filtert Nuri die Angst. Er lächelt, für die paar Minuten, in denen die Kranken in seinen Händen sind. Hier hat seine Freundlichkeit eine Fläche, und ernst zu sein oder geheimnisvoll, das wäre gemein. Nuri bemüht sich, beruhigend zu wirken und zuversichtlich. Im Krankenhaus sagst du nicht: Scheiße, sieht schlecht aus. Du nickst und machst was mit deinen Augen, damit die voller Optimismus sind und überall nur Hoffnung. Alles andere kannst du nicht bringen.
Vor allem nicht bei den Kindern.
Der Vater stellt sich neben Nuri und will schieben. Es ist schwer, so ein Bett. Und es hat einen Mechanismus, den einer kennen muss, um es bewegen zu können, damit das funktioniert mit dem Bremsen und dem Lenken. Wenn da jemand helfen will, dann geht gar nichts mehr.
«Alles gut», sagt Nuri freundlich, «ich mach das schon.»
Der Vater hört nicht auf, seinen Körper gegen das Metall zu stemmen, Nuri bleibt ruhig.
«Halten Sie lieber Ihrem Kind die andere Hand», schlägt er vor, und der Vater tut es wie etwas, für das er eine Erlaubnis gebraucht hat.
Nuri macht einen Job, den ein Roboter tun könnte. Bett abholen, Bett durch das Krankenhaus bugsieren, Bett abgeben, Proben transportieren, Geräte abliefern, Rollstühle schieben, gehfähige Patienten begleiten und stützen. In der App den grünen Haken antippen.
Der nächste Auftrag und der nächste.
Die Mutter fängt an zu weinen, als sich die Aufzugtüren schließen. Nuri muss ihr aufgedehntes Atmen aushalten und wie sie versucht, das Schluchzen unhörbar zu machen, was unmöglich ist in einem so beengten Raum. Der Vater sieht geradeaus, die Knöchel seiner Hand, mit der er die seines Sohnes umklammert, sind weiß.
Nuris Lächeln verpufft, für solche Momente ist es zu schwach.
Sechs Stunden sollte er Betten schubsen, am Ende sind es siebeneinhalb, bevor er einen Moment findet, in dem er in die Umkleide verschwinden und sich ausloggen kann. Für solche wie ihn gibt es keinen Pausenraum. Er trinkt aus dem Wasserhahn, zieht die Krankenhaushose und das Oberteil aus, wirft beides in einen Wäschekorb. Er desinfiziert sich die Hände, wäscht sich das Gesicht, die Achseln, kramt in seinem Rucksack nach der frischen Unterhose, den Socken, dem Shirt. Eine weitere Garnitur hat er noch, für morgen. Dann kann er wieder nach Hause, dann muss er wieder nach Hause. Er setzt sich, als er fertig ist, auf die Holzbank, lässt den Kopf hängen, der voll ist und schwer wegen der vielen Gesichter und nackten Füße und durchgestrichenen Namen und stillen Tränen, als er das Bein sieht. Alarmiert springt er auf, läuft um die Spinde herum. Auf dem Boden sitzt Ruth. Sitzt da und rührt sich nicht. Hat aber die Augen offen und atmet. Nuri geht in die Hocke, berührt Ruth am Knie.
«Alles okay?», fragt er, und ihm fällt der Schokoriegel ein, den er noch im Rucksack hat. Den wollte er essen nach dem Dienst.
«Ruth?»
Sie reagiert nicht.
«Moment», flüstert er und holt seinen Rucksack, zieht den Riegel heraus, macht ihn auf. Das Knistern der Folie scheint zu Ruth durchzudringen, sie hebt den Kopf, schaut auf seine Hände. Sie hat die Beine abgeknickt und einen Blick, als könnte ihr nie mehr warm werden. Nuri legt eine Hand an ihre Schulter, hält die Schokolade zu ihrem Gesicht und merkt, er lächelt nicht.
«Ruth», sagt er noch mal und fragt sich, wieso niemand hier ist, wieso immer alle überall rumrennen und keine Zeit haben, was zu essen oder zu trinken oder aufs Klo zu gehen, die simpelsten menschlichen Bedürfnisse, verdammt.
Vielleicht riecht Ruth säuerlich.
«Iss», sagt Nuri, und Ruth nimmt den Riegel, beißt ab mit einer mechanischen Bewegung. Nuri sieht ihr beim Kauen zu und atmet gegen den knarzenden Hunger in seinem Bauch. Es ist okay, er hat noch das Trinkgeld, er wird auch heute Abend welches bekommen, dazu den Lohn für die drei Nächte hinter der Bar, schwarz. Er kann sich einen Döner kaufen und was zu trinken und wird genug Geld haben für den Zahnarzt am Montag. Zweihundertfünfzehn Euro kostet die Füllung, weil Nuri eine weiße will und die Kasse dafür nicht zahlt.

Er steht auf, nimmt einen Plastikbecher neben dem Wasserspender, der leer ist, seit Nuri hier arbeitet, hält den Becher unter den Wasserhahn. Ruth trinkt alles aus wie ein Kind, das beim Spielen vergessen hat, was ein Körper braucht. Mit knackenden Knien erhebt sie sich, auf ihrem Oberteil ist ein großer Fleck, jemand hat sie angekotzt. Das erklärt den Geruch, denkt Nuri.

Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlages.

Mareike Fallwickl: Und alle so still. Roman. Rohwohlt Verlag, Hamburg 2024. 368 Seiten, 24,50 Euro, auch als e-Book erhältlich – www.rowohlt.de
Mareike Fallwickl präsentiert ihren neuen Roman morgen Dienstag (16.4.) um 20 Uhr in der ARGEkultur – www.argekultur.at
Bild: rowohlt / Gyöngyi Tasi

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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