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Lebendige Legende

PFINGSTFESTSPIELE / BALLETT

16/05/16 Manchmal geht der Vorhang auf und für drei Stunden enthüllt sich der große Zauber des Theaters. So geschehen im Großen Festspielhaus am Sonntag. Sergej Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“ in der legendären Choreographie von John Cranko, mit dem Stuttgarter Ballett und dem Mozarteumorchester.

Von Gottfried Franz Kasparek

11. Jänner 1975, Wiener Staatsoper. Der Vorhang öffnet sich und Verona in der Renaissance erscheint, im milden Licht alter Gemälde. Sonnenaufgang. Aus spielerischem Wettkampf entsteht der berühmteste Familienstreit der Weltliteratur. Und dennoch liebt Julia Romeo. Bis zur tragischen Konsequenz. Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich sehr genau an einen wundersamen Abend, der ihm erstmals Augen und Herz öffnete für die Schönheit und theatralische Energie des klassischen Balletts. Damals war John Crankos Choreografie schon 13 Jahre alt und ihr Schöpfer schon bald zwei Jahre tot.

Über ein halbes Jahrhundert nach der Premiere in Stuttgart ist dieses Gesamtkunstwerk frisch wie am ersten Tag. Ja, die atmosphärischen Bühnenbilder und kleidsam-eleganten Kostüme von Jürgen Rose wirken wie Bilder alter italienischer Meister, aber sie sind voller Leben. Es pulsiert in ihnen, es wird geliebt, gestritten, getötet und getrauert, es wird gefeiert und gebetet, und all dies eben nicht dekorativ, sondern von innen erfühlt. John Cranko, ein früh Vollendeter, war ein begnadeter Erzähler von Geschichten in Tanzschritten. Da braucht es keine Aktualisierung. Offenbar ist es dem Stuttgarter Eliteensemble gelungen, in all den Jahren nicht nur das gerade in seiner relativen Einfachheit und Shakespeare-Treue, in seiner beglückenden Musikalität geniale Konzept und die starken Bilder dieser Produktion zu konservieren, sondern sie immer wieder und auch diesmal mit neuem Leben zu erfüllen.

Das Corps de ballet trägt mit herrlichen Genreszenen zwischen Faschingstreiben und Jungfernkranztänzchen im Brautgemach Wesentliches bei. Die Clowns in der Karnevalsszene hüpfen auch anno 2016 über seelische Abgründe hinweg. Die Volksszenen sind voll bunter, nie aufgesetzter Bewegung. Die Baskin Alicia Amatriain ist eine grazile, aber vor allem verinnerlichte, in grandiosen Momenten herrlich trotzig-pubertäre, in Finale zur großen, doch in jeder Geste lyrischen Tragödin reifende Julia. Ihr Stuttgarter Romeo, Friedemann Vogel, hat exakt das unbekümmert Burschikose, das draufgängerisch Gefährliche und den grenzenlosen Welt- und Liebesschmerz eines 16jährigen Jünglings.

Der stets lauernde, ernst gefasste Tybalt (Roman Novitzky) und der jungenhaft fordernde Mercutio mit kasperlhaften Attitüden (Pablo von Sternenfels) tanzen nicht nur perfekt und sterben berührend, sondern verkörpern ebenso wie der seriös gelackte Paris (Constantine Allen) und der gute Freund Benvolio (David Moore) Prototypen zeitloser Jugendlichkeit. Das Elternpaar Capulet (Rolando d’Alesio und Melinda Witham) strotzt vor verklemmter Sittenstrenge und patriarchalischer Enge, wirkt aber dennoch imposant. Louis Stiens stellt den Herzog und den Bruder Lorenzo mit unterschiedlich gesalbter Würde dar, Sonia Santiago ist jeder Zoll eine ins Unheil verstrickte Amme.

Und die Salzburger Beteiligung? Der Ballettspezialist James Tuggle dirigiert das famos aufspielende Mozarteumorchester mit Verve und Präzision und schlägt alle Funken aus Prokofjews singulär rhythmisch-dramatischer, in jedem kleinsten Motiv wunderbar inspirierter, ergreifend herber Partitur. Das ist Oper ohne Gesang, gültig formuliertes Musiktheater. Die vielen Bläsersoli erklingen geradezu betörend – und mitunter eben deswegen verstörend schön. Die Streichergruppe singt in zartester Poesie von der Gewalt der Liebe. Im dritten Akt geschieht monumentales Klangtheater. Großer Jubel für alle auf der Bühne und im Graben.

Bilder: Salzburger Festspiele / Stuttgarter Ballett

 

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