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Donner, schlage die Erdkugel flach

FESTSPIELE / LEAR

21/08/17 Was für ein Land, das Lear unter seinen Töchtern zu verteilen hat! Über und über ist es mit Blumen bedeckt. Nicht lose bestreut, nein üppiges Blühen bis auf Waden-, gar Kniehöhe. Und natürlich keine Kunstblumen, sondern saftiges Sprießen dicht an dicht auf der Spielfläche der Felsenreitschule. Die Salzburger Festspiele sparen nicht, für König Lear nicht und auch nicht für den 81jährigen Komponisten Aribert Reimann.

Von Reinhard Kriechbaum

Mit „Lear“ hat Aribert Reimann vor ziemlich genau vier Jahrzehnten einen der wenigen Opern-Klassiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelandet. 28 Mal ist seine Oper seither produziert worden: Bestätigung für ein Musiktheater, das sich musikalisch ganz und gar nicht den Ohren anbiedert.

Doch zurück auf die Blumenwiese, die in Salzburg Gerald Finley als Lear auf seine Töchter aufteilt. Im weißen Smoking winkt er müde, aber jovial ins Publikum und schüttelt einigen aus dem Volk, das in 150-Kopf-Stärke als Statisterie vor den Steinarkaden Platz genommen hat, die Hände. Schön-Redner und Speichellecker ist so ein Potentat gewohnt, nicht eine Tochter wie Cordelia, die sich lobender Phrasendrescherei verweigert und bloß „liebt wie eine Tochter, nicht mehr, nicht weniger“. Da braust dieser Lear auf, tobt unbeherrscht wie Donald Trump beim leisesten Widerspruch. Wäre Twitter in der Shakespeare-Zeit (oder 1777, als Johann Joachim Eschenburg die von Reimann vertonte Übersetzung schrieb) schon erfunden gewesen: Ein Satz wie „Donner, schlage die Erdkugel flach“ wäre schnell abgesetzt gewesen, schneller als der König durch die Töchter vom Thron entfernt wird.

Immer an diesem denkwürdigen Abend wird man heutige Bilder vor Augen haben, denn der Australier Simon Stone – gleich gefragt fürs Sprech- wie fürs Musiktheater – lässt Lear im Hier und Jetzt abdanken. Wenn ihm die Folgen des Machtverzichts klar werden, trampelt Lear wie ein Berserker über die Blütenpracht, reißt Pflanzen büschelweise aus. Dass die Heide bald verwüstet ist – nach der Pause ist die Bühne völlig leer geräumt – dazu wird er mit seiner Unbeherrschtheit selbst nicht wenig beigetragen haben. Die Töchter umgeben sich rasch mit bedrohlichen „Security“-Schergen. Auch solche Typen mit Kappen sind uns leider nur zu vertraut. Lears Pensionsantritts-Bacchanal (mit viel Bier und blanken Busen) machen sie ein rasches Ende. Da richtet der dem König zu Hilfe eilende Kent in der Uniform eines österreichischen Polizisten wenig aus und landet in einem Hundekotter.

Was für eine Bildwirkung, wenn es bühnenflächendeckend regnet in der Sturmnacht. Ein Mal noch blühender Naturalismus, wenn der dem Wahnsinn nahe Lear sich zu dem als Narr gebärdenden Edgar/Tom hingezogen fühlt. Dann aber legt Regisseur Simon Stone den Hebel um. Bildmächtig immer noch, aber abstrahierend das Weitere. In England sind die Schlächter unterwegs, rituell wird ein Blutbad unter der Zuschauer-Statistenschar vollzogen. Viele stürzen in die rote Lache. Lear hat Visionen. Dem parkinson-zitternden Gloster wird das Augenlicht geraubt. Edgar/Tom ist jetzt als Luftballone tragende Mickey Mouse unterwegs.

Schließlich landet Lear in der Psychiatrie, Cordelia sitzt am Krankenbett des Vaters. Was Anna Prochaska in dieser Rolle in ihren wenigen Szenen auch als Schauspielerin leistet, ist beachtlich, wie überhaupt Simon Stones sagenhaft genau arbeiten lässt mit Blicken und Gesten. Da brachte ein Regisseur mal wirklich Riesenraum und darstellerische Fassung zusammen.

Nun verlässt Stone ganz den Naturalismus: Gefangennahme von Cordelia und Lear durch einen herabfallenden Zylinder aus Gaze-Stoff. Davor Rampensingen. Den Machtkampf am Hofe braucht man nicht „spielen“, da hat das Publikum genug Bilder im Kopf. Adäquate Bilder wären nicht mal mit der sagenhaft-verschwenderischen Festspiel-Opulenz zu toppen. „Die Zeiten sind so grausam, dass Wahnwitzige Blinde führen“. So aktuell ist „Lear“.

Edmund und Goneril haben nicht nur blutige Hände, es tropft und rinnt herunter. Das reicht als Chiffre. Die tote Cordelia steht erst da wie eine weiße Alabasterfigur, Lear und sie sinken aufs Spitalsbett: ein berührender und doch abstrahierender Liebes- und Selbsterkenntnis-Tod. Da kippt und verflüchtigt sich der Orchesterklang in einen magisch-irrealen, gläsernen Sound.

Das geht unter die Haut. Wie überhaupt man 39 Jahre nach der Uraufführung in München (damals inszenierte Pierre Ponnelle und es sang Dietrich Fischer-Dieskau) die herausragende Qualität dieser so enorm aufs Wort konzentrierten Musik mehr als bestätigt findet. Wie jeder Gedanke unmittelbar seinen Niederschlag findet in dieser Partitur, das zeigen Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker quasi al fresco und doch mit rhythmischer Genauigkeit und großer innerer Balance. Das seitlich im Raum erhöht platzierte Schlagzeug macht gehörig Effekt.Vor allem aber das dynamische Augenmaß fürs Orchester! Jeder gesungene Satz, jede Randbemerkung kommt pointiert und so verständlich herüber, so dass es die Übertitelung eigentlich gar nicht brauchte.

Gerald Finley hat im Lear seine Traumpartie gefunden, glaubhaft in seiner Wandlung vom Wort-Randalierer bis zum leisen Erdulder, all das gestaltend mit der zurückhaltenden Präzision eines Liedsängers. Schlackenlose Lyrik ganz ohne verdächtige Sentimentalität steuert die kluge Anna Prochaska als Cordelia bei. „Lear“ ist ein personenreiches Stück, man kann in dieser fürwahr festspielwürdig besetzten Riesengruppe nicht alle Personen und ihre Darsteller aufzählen.

Der machtvoll auftrumpfenden Finsterlinge sind viele, und die schneidigen Attacken von Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin (Goberil, Regan) lassen zusammenzucken. Der Countertenor Kai Wessel hat als Edgar/Tom intensive Momente. Der „echte“ Narr ist mit einem Schauspieler besetzt: Michael Maertens mal in einem ganz anderen Timbre und mit Sprechgesang gefordert. Auch das eine nachdrückliche Leistung.

Der Jubel war riesengroß, einige Mißfallensäußerungen wohl für den Regisseur (aber überwiegend Zustimmung auch für ihn). Was hätten die Buh-Rufer wohl gerne gesehen?

Weitere Aufführungen am 23., 26. und 29. August in der Felsenreitschule – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

 

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