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Das beschlagene Fenster zur Seele

FESTSPIELE / LA BOHEME

02/08/12 Schneechaos. Ein Würstelstand an der Auffahrt zur gesperrten Stadtautobahn. Nur die Verlorensten der Verlorenen kommen an dieser Stätte zusammen. Drogensüchtige Prostituierte. Der eine oder andere zum Dekorationsmaler gesunkene Künstler. Verzweifelte Liebende. Mimì und Rodolfo… Erst gegen Schluss rührt die Neuinszenierung von Puccinis „La Bohme“ tatsächlich ans Herz.

Von Heidemarie Klabacher

Nichts in diesem existentialistisch grauen Setting am Stadtrand – wo früher vielleicht die „Zollschranke“ war - erinnert mehr an den schreiend bunten Weihnachtstrubel in einem Einkaufstempel im Zentrum von Paris. Vergessen ist die grellbunte Konsumwelt, zu der das Quartier Latin in der Lesart von Regisseur Damiano Michieletto und seines Ausstatters Paolo Fantin degradiert worden ist. Vergessen ist der Vorbeimarsch der Blasmusikanten mit den Glühbirnen auf der Uniform. Vergessen der Spielzeughändler Parpignol, der – mit einem ebenfalls grell leuchtenden „P“ auf der Brust – in Supermann-Attitüde über den Köpfen der Kinder und Konsumenten triumphierte.

Als szenisches Leitmotiv in Erinnerung bleiben Stadtplan und Straßenverzeichnis (samt Notruf-Nummern) von Paris: in einer aktuellen Version von 2012 vergrößert auf Festspielhaus-Bühnengröße, bilden die Karten quasi den Hintergrund für die beiden Binnenszenen. Tragbare Gründerzeitbauten in Spielzeughaus-Format stehen ebenfalls für das Stadtbild von Paris, dienen aber auch als Sitzgelegenheiten etwa im Cafe Momus.

Erstes und viertes Bild spielen, wie es sich gehört, in einer Mansarde über den Dächern von Paris: Diese Studentenbude, kahl und zugemüllt zugleich, wird von einem überdimensionalen, den Bühnenrahmen füllenden Fenster dominiert. Die Flügel öffnen sich am Ende des ersten Bildes und geben so den Blick frei auf die Straßenszenen. Der Zoom-Effekt, der sich dadurch im Zusammenwirken mit dem Blick auf den Stadtplan und die fokussierten Schauplätze ergibt, ist überaus reizvoll.

Zu den wahrhaft poetischen Bildern gehören die Regentropfen, die in Echtzeit auf die Fenster fallen und ihre Spuren hinterlassen auf den beschlagenen Scheiben. MIMI schreibt eine (vom Publikum aus unsichtbare) Hand von „außen“ auf diese Fensterscheibe – und löscht den Schriftzug im vierten Bild auch wieder aus…

Kraftvoll singen und temperamentvoll spielen die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor. Die schreiend-bunten Chorszenen  stehen in äußerstem Gegensatz zu den intimen und verhaltenen Ensembleszenen. Aus dieser Spannung gewinnt die Interpretation von Damiano Michieletto doch einige Tiefe.

Sängerisch entspricht die Produktion den (selbst nach Abklingen des totalen „Netrebko-Hypes“) medial hochgeschraubten Erwartungen. Anna Netrebko, gekleidet wie eine etwas verwahrlost-punkige junge Frau von Nebenan, rührt darstellerisch mit einer Anmutung von Verlorenheit. Stimmlich packt sie ihr Publikum von den ersten Takten der ersten Arie an:  „Man nennt mich Mimi…“ Mit großer Zurückhaltung, bewusst als wahre Glanzlichter, setzt sie die großen Töne ihrer stupenden Ausdrucksskala ein. Beinahe noch bewegender sind die vielfältigen Schattierungen im Piano, mit denen Anna Netrebko ihrer Figur blutvolles Leben einhaucht.

Piotr Beczala als Rodolfo erinnert im Intellektuellen-Outfit von Carla Teti  ein wenig an den jungen Handke. Sängerisch überzeugt er sowohl in den Ensembles als auch in seinen großen Szenen mit strahlendem Klang und sicher über die Lagen geführten Linien. Bei Spitzentönen und besonders bewegenden Passagen scheint er gelegentlich „aus der Rolle“ zu fallen und statt des verzweifelt Liebenden steht dann - zumindest für Augenblicke – doch nur ein Startenor auf der Bühne. Anna Netrebko passiert so was nie. Die Souveränität und die Leichtigkeit, mit der sie allfällige technische Herausforderungen der Gesangspartie den Anforderungen der Rolle beizuordnen scheint, machen immer wieder staunen.

Nino Machaidze ist darstellerisch eine charmant und frech flirtende Musetta, stimmlich überzeugt sie mit großer Beweglichkeit, bei zugleich voller warmer Klangfülle in allen Lagen.

Liebenswürdig gestaltete Charaktere von je ausdifferenzierter Persönlichkeit – und von den Stimmfarben her perfekt aufeinander abgestimmt - sind Massimo Cavalletti als Marcello, Alessio Arduini als Schaunard und Carlo Colombara als Colline.

Dieser Marcello ist mehr als nur ein Freund des Liebhabers, dieser Marcello ist für diese Mimì ein vertrauter Freund. Carlo Colombara als Colline zelebriert den Abschied von seinem alten Mantel (der ins Leihhaus muss) als Tragödie in der Tragödie.

Auch die kleineren Partien sind hervorragend besetzt, wie etwa Davide Fersini als Hausbesitzer Benoit oder Peter Kálmán als Musettas ältlicher Liebhaber Alcindoro.

Daniele Gatti am Pult der Wiener Philharmoniker lässt die leisen Töne zelebrieren und auch die machtvollen emotionalen Passagen in der Lautstärke wohl dosieren: In Summe eine in den Klangfarben facettenreiche, wenn auch etwas glatte Orchesterwiedergabe, die mehr auf die Schönheit der Klangoberfläche zählt, denn auf das Ausloten der emotionalen Klüfte.

Aufführungen bis 18. August - www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SF/Silvia Lelli

 

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